Bahn Extra

Kurz danach tauschte ich über die Kaderstel- le der VES-M mit Werner Dietmann meinen Arbeitsplatz bei Str 1 gegen seinen bei KE 1 in Dessau. Dietmann war hoch erfreut, dem langweiligen Papierkram Lebewohl zu sa- gen und auf dem Messwagen nun richtige Eisenbahn zu erleben. Er hatte mich kurz in das Geschäft eingewiesen. Zähes Ringen in Dessau Ich hatte arbeitsmäßig allerdings „in den Müll gegriffen“. Neben den laufenden Aufgaben wartete ein Schrank voller älterer Akten. Da- runter dünsteten noch aktuelle Vorgänge ne-

täglich zwischen Dessau Süd und Halle Hbf. Unsere Hauptaufgabe war die Leistungs- und thermische Erprobung derV 180,V 100, V 60 und V 15 vor dem Messwagen und im Betrieb. Dampflok-Messfahrten waren ei- gentlich schon Geschichte. Ausnahmen bil- deten die Sicherheitsventil-Abblasversuche an der 01 504, Vergleichsmessfahrten der 38 3276 vor und nach dem Einbau eines Giesl-Ejektors mit Flachschornstein und Leistungsmessfahrten mit der 95 004 nach Einbau der Ölhauptfeuerung. Es war inzwischen Spätherbst geworden. In Halle eine Wohnung zu bekommen, war

Maschinenwirtschaft unterstellt und per 1. Januar 1960 zur Versuchs- und Entwick- lungsstelle für die Maschinenwirtschaft Halle (VES-M) zusammengeschlossen. Der Dienst- ort war Halle, mit der Außenstelle in Dessau. Von Dresden zurück, erhielt ich von der VES-M zum 1. August 1961 einen Arbeits- vertrag als „Versuchsingenieur in Ausbil- dung“ mit dem zugehörigen Ausbildungs- plan. Die früher übliche Beamtenlaufbahn gab es bei der Reichsbahn nicht mehr. Der Dienststellenleiter, Reichsbahnoberrat Max Baumberg, legte aber Wert darauf, dass die Eisenbahn-Eleven vor der Tätigkeit in der VES-M erst etwas Betriebsluft schnupper- ten. So rückte ich wieder in das Bw Dessau ein. Es ging gleich auf die 55er als „dritter Mann“. Nach einer Woche nahm mir derTb- Gruppenleiter die Heizerprüfung ab. Auf der 55 2778 schaufelte ich nun den Ablauf- berg rauf und runter und hobelte alle Gleise des Dessauer Güterbahnhofs ab. Nach drei Wochen stieg ich auf die linke Seite einer P 8. Im Personenzugdienst ging es als Heizer bis Falkenberg, Belzig und Magdeburg. Es folgten Belehrungsfahrten im Personen- und Güterzugdienst. Danach besuchte ich die Lokfahrschule Schönebeck-Grünewal- de. Zum Einsatz als Lokführer kam es lei- der nicht mehr. Die VES-M rief zur Arbeit. So setzte ich ab Dezember 1961 bei der Fachgruppe KE III (Konstruktion und Ent- wicklung – Dieselfahrzeuge) meine Tätig- keit, nunmehr als Konstrukteur, fort. Die Dotierung der Planstelle war mager. Als Fachschul-Ingenieur gab es unter den vielen Diplom-Ingenieuren praktisch keine Aufstiegschancen. Ein Kollege schlug vor, Erst nein, dann ja - schließlich durfte ich doch ein Fernstudium an der TU Dresden beginnen wir sollten durch ein mehrjähriges Fernstu- dium den fehlenden akademischen Grad er- werben. Nach reiflichen Überlegungen ent- schloss ich mich dazu. Da ein Fernstudium etliche Arbeitszeit-Freistellungen für Konsul- tationen, Seminare und Prüfungen bedingte, ging das nur mit Genehmigung der Dienst- stellenleitung. Nach anfänglicher Ablehnung – in der VES-M gebe es genug Diplom-Inge- nieure – erhielten wir dann doch die Zustim- mung. Mein Fernstudium an derTU Dresden begann am 1. September 1963 und endete nach einer Abschlussarbeit im Juli 1971. Verbesserung in Halle? Inzwischen fand mein Begehren zur Aufbes- serung der Bezüge irgendwie den Weg zum Leiter Baumberg. Der bot mir eine Verset- zung auf eine bessere Planstelle in Halle an. Im März 1964 trat ich dort meinen Dienst bei der Fachgruppe Str I (Streckenversuche Dampf und Diesel) an. Zunächst pendelte ich

Im November 1965 führen wir Messfahrten auf der Strecke Erkner – Frankfurt (Oder) durch. Bei einem Wendeaufenthalt im Bahnhof Fangschleuse stellen sich von links nach rechts zum Foto: Mechaniker Lohrengel, Versuchs-Ingenieur Lange, Gruppenleiter Greifenberg, Messwagen-Inge- nieur Bauer, Lokführer Köpke und Mechaniker Stoye

ben solchen, die sich durch langes Liegen von selbst erledigt hatten. Eingereicht waren sie von den Dampflok-Ausbesserungswerken und „nützlichen Erfindern“ aus dem Bahn- und Privatbereich. Sie betrafen Bauartände- rungen und Genehmigungsunterlagen für Dampflokomotiven sowie die unsinnigsten Erfindungen und Verbesserungsvorschläge. Das Einsatzende vieler Dampflok-Baureihen war schon absehbar. Deshalb galt die interne Devise: Bauartänderungen, die weniger als 100.000 Mark Nutzen versprachen, werden nicht mehr bearbeitet. Mein direkter Vorgesetzter saß einige Bü- ros weiter. Das Interesse an mir und „mei- nen“ Akten hielt sich in engsten Grenzen. So manche Woche sah ich ihn überhaupt nicht. Anders war es, als ich den Auftrag erhielt, für die 18 314, den „Schorsch“, neue Nieder- druckzylinder in Schweißausführung zu konstruieren. Aus Baumbergs Schatz erhielt ich dazu eine betagte Beschreibung der Lok- Baureihe und einige vorhandene Zeichnun- gen der Gusszylinder. War der Chef in Des- sau, sah er bei mir herein und ließ sich über den Fortschritt der Arbeit berichten. Eines Tages erschien ein Vertreter des Raw Halle bei mir. Im Anheizschuppen wür-

für einen unwichtigen Eisenbahner aus- sichtslos. Über den betriebseigenen Woh- nungsobmann erhielt ich jedoch eine Zu- weisung für ein schmales, 14 Quadratmeter großes Zimmer bei einem älteren Ehepaar in der Volkmannstraße 13 im ersten Ober- geschoss. Die Volkmannstraße war eine ru- hige Nebenstraße mit einem baumbestan- denen Seitenstreifen. Später ist sie zu der vierspurigen, lärmigen Schnellstraße F6 (heute B6) ausgebaut worden. Mein Zimmer hatte ein nach Norden, auf die Krucken- bergstraße weisendes Fenster, das nie die Sonne streifte. Die Aussicht aus dem dunk- len Altbau ging auf die grauen Fünfge- schosser der anderen Straßenseite. Die Toi- lette lag auf der halben Treppe. Die Aschekübel standen staubgerecht im Keller. 1965 hatte ich in Jena geheiratet. Meine Frau zog mit nach Halle und wohnte vorü- bergehend mit in der schmalen Bude. Sie hatte in der Universitäts-Frauenklinik sofort Arbeit bekommen. Die Klinik hatte ihr aus- sichtsreiche Unterstützung bei der Wohn- raumbeschaffung zugesagt. Tatsächlich wa- ren unsere Bemühungen mit Unterstützung beider Betriebe vergeblich. Wir zogen also nach Dessau Süd, wieder zu meinen Eltern.

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BAHN EXTRA 4/2022

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