Ein badischer Kalender-Krimi Armbruster und der böse Wolf
VON SIMONE DORRA
A ls der Hund neben ihm zu jaulen anfing, begriff Johannes Arm- bruster auf der Stelle, dass eine Katastrophe in der Luft lag. Johannes war mit Leib und Seele Schäfer – jedenfalls seit fünf Jahren. Vorher hatte er in Stuttgart Hedgefonds betreut und Sum- men an der Börse verschoben, bei denen normalen Menschen schwin- delig wurde. Irgendwann war ihm selbst dabei schwindelig geworden. Er litt zunehmend unter Gleichgewichtsstörungen, einem Tinnitus, der ihn fast in den Wahnsinn trieb, und einem Blutdruck, der seinen Hausarzt dazu veranlasste, sich besorgt zu räuspern. »Sie sind erst Anfang 40, Herr Armbruster«, sagte er. »Und wenn Sie so weitermachen, dann kippen Sie in ein, zwei Jahren aus Ihrem ergo- nomischen Bürostuhl und haben nichts mehr von Ihrem vollen Bankkonto.« Also beschloss Johannes, den wegen chronischer Überarbeitung immer wieder aufgeschobenen Urlaub zu nehmen und seinen Onkel Gottfried zu besuchen, der im Schwarzwald wohnte und Schafe züch- tete. Das Wochenende darauf war er in Wolfach. Der Onkel – über sieb- zig, aber immer noch rüstig – freute sich sehr, ihn zu sehen, und lud ihn ein, ihn zu begleiten, während er seine Tiere für den Sommer auf die Hochweiden trieb. Und während der nächsten Tage mit der Herde be- griff Johannes zum ersten Mal, was er eigentlich wirklich brauchte – und was er wirklich wollte. Nach diesem Urlaub verkaufte er sein teures Loft auf dem Killes- berg, kündigte seinen hochbezahlten Job und zog zu Gottfried Arm- bruster auf den Hof. Dass seine Chefs und seine (wenigen) Stuttgarter Freunde ihn für komplett verrückt hielten, interessierte ihn nicht. Jetzt, fünf Jahre später, war er »Tierwirt mit Fachrichtung Schäferei«. Onkel Gottfried war im Ruhestand, und Johannes führte ein Leben, das er
Lahrer Hinkender Bote 2021
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