»Die glauben, ich hätte das Gatter aufgelassen.« Johannes spürte, wie ihn erneut die Wut packte. »Weil ich doch einer aus der Stadt bin und erst vor zwei Jahren meine Prüfung abgelegt habe, nicht wahr.« »Quatsch.« Ines sprach mit Nachdruck. »Du machst deine Sache wirklich gut. Als deine Mutterschafe vor ein paar Wochen fast alle gleichzeitig gelammt haben, hast du dich großartig geschlagen.«
Bei der Erinnerung lächelte Johan- nes flüchtig. Ines hatte in diesen zehn turbulenten Tagen mehr Zeit bei ihm und seiner Herde verbracht als auf ir- gendeinem anderen Hof in der Umge- bung. Seitdem waren sie per Du. »Ich hab Fotos von den Bissspuren gemacht«, sagte sie gerade. »Und Pro- ben genommen, für das Labor. Wenn es wirklich ein Wolf war, dann wissen wir das bald.« »Das bringt mir auch nicht den Rest der Herde zurück«, antwortete Johan- nes erbittert. »Weiß ich.« Ines stand auf. »Aber ich hab im Labor in Freudenstadt eine Freundin, mit der war ich auf der Uni. Vielleicht findet die was raus, das uns weiterhilft.« Sie verabschiedete sich, und Johan- nes verbrachte den Rest des Tages und eine sehr unruhige Nacht damit, in sei-
ner stillen Stube auf und ab zu wandern und darüber nachzugrübeln, wer ihn in der Gegend genügend verabscheute, um ihm einen derart hässlichen Streich zu spielen. Mit dem einzigen anderen Schäfer, den er – außer Onkel Gottfried – noch kannte, vertrug er sich inzwischen ganz gut. Der Mann – ein wettergegerbter Mittfünfziger namens Hans Doderer – hatte ihn sogar letztes Jahr eingeladen, mit Randy und seiner Herde am Bundesleis- tungshüten auf der Schwäbischen Alb teilzunehmen. Johannes hatte dankend abgelehnt; er hielt nicht mehr viel von Wettbewerben. Wer dann? Die meisten Wolfacher hielten ihn zwar für einen Son- derling, behandelten ihn aber mit nachsichtiger Freundlichkeit. Und der Metzger, der Johannes im Frühling und Herbst nach dem Schlach-
Lahrer Hinkender Bote 2021
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