ten das Lammfleisch abkaufte, hatte genauso wenig Grund, ihm übel- zuwollen. Schließlich machte er durch ihn ein nettes Zusatzgeschäft. Wie sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm wollte niemand ein- fallen. Irgendwann gegen zwei kippte er endlich todmüde ins Bett, schlief ein und träumte von einem riesigen Wolf, der sich auf die Hin- terbeine stellte, das Gatter des Pferchs öffnete und jedes einzelne sei- ner 150 Schafe fraß. An diesem Punkt schreckte er schweißgebadet hoch, wälzte sich aus dem Bett und versuchte, seine Nerven mit ein
paar Schnapsgläsern Kirschwasser zu beruhigen. Wer hatte ihm das angetan, verdammt noch mal?
***
Zwei Tage später hatte Ines Waidele in ihrer Praxis gerade eine Katze kastriert, als der Anruf ihrer Freundin aus dem Labor in Freudenstadt kam. Sie nahm ab und lauschte minutenlang schweigend, während sich eine steile Falte in ihre Stirn grub. Dann stellte sie einige Fragen, be- dankte sich und legte auf. Als Nächstes ging sie zu ihrer Sprechstun- denhilfe. »Verschieben Sie alle restlichen Termine«, sagte sie. »Ich muss mal eben schnell weg, okay?« Zehn Minuten fuhr sie außerhalb von Wolfach eine holperige Straße den Berg hinauf. Ein paar hundert Meter weiter oben wichen die Bäume zurück und vor ihr lagen frühsommergrüne Weiden rings um ein altes Bauernhaus mit Walmdach und zwei Stallgebäuden. Der Englert-Hof. Altbauer Wilhelm Englert hatte ihn vor fünf Jahren auf seinen Sohn Robert übertragen, der seither kein Milchvieh mehr hielt, sondern sich auf die Vermietung von Ferienwohnungen verlegt hatte. Damit ließ sich sommers wie winters schönes Geld verdienen, und Robert hielt sich selbst für einen ausgesprochen guten Fang. Er versuchte seit Län- gerem, Ines von seinen Qualitäten zu überzeugen, stieß aber zu seiner großen Enttäuschung auf wenig Gegenliebe. Ines parkte ihren Wagen vor dem Haus, stieg aus und wollte gerade klingeln, als plötzlich aus einem der Ställe, die eigentlich schon lange leerstanden, ein vielstimmiges »Määääh!« an ihr Ohr drang. Sie huschte über den Hof, entriegelte die Stalltür … und sah sich einer höchst ver- trauten Schafherde gegenüber, die sich in dem kleinen Bau zusammendrängte.
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