Aktuelle Empfehlungen der Ethikkommission sprechen sich für das so genannte „Ermessensprivileg“ aus, d. h. dass das Wer, Wie und Warum einer Forderung nach einer Verletzung der Vertraulichkeit in erster Linie als Angelegenheit der klinischen Entscheidung und der ethischen Beurteilung durch den einzelnen Analytiker angesehen wird, eine Entscheidung, die auf dem beruhen kann, was die Integrität der Behandlung und des Patienten am besten schützt. Die folgenden Empfehlungsentwürfe der Ethikkommission gelten insbesondere für Behandlungen von Kindern und Jugendlichen, aber wir unterstützen die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien, da sie unserer Meinung nach für alle Psychoanalysen gelten. Die Empfehlungen lauten wie folgt: „Vertraulichkeit ist eine der Grundlagen der psychoanalytischen Praxis. Ein Psychoanalytiker muss die Vertraulichkeit der Informationen und Dokumente von Patienten wahren. Im Hinblick auf die Behandlung von Minderjährigen müssen möglicherweise bestimmte zusätzliche Faktoren berücksichtigt werden: Besteht die Befürchtung, dass eine glaubwürdige Gefahr einer schweren Verletzung von sich selbst oder anderen oder eines drohenden Selbstmordes besteht, kann eine Verletzung der Vertraulichkeit erforderlich sein. Es können geeignete Maßnahmen erforderlich sein, die auch die Benachrichtigung eines Dritten (z. B. Elternteil/Vormund, Schulbeamter, etc.) beinhalten können. Wenn lokale Gesetze und/oder Vorschriften eine Meldung vorschreiben (z. B. über sexuellen Missbrauch), sollte der Analytiker bei Entscheidung über seine Vorgehensweise die Auswirkungen der Meldung auf die Behandlung abwägen und dabei das Wohlbefinden und den Schutz des Kindes und Jugendlichen sowie sein Recht auf eine qualitativ hochwertige Behandlung berücksichtigen. Wenn die Frage der Meldung oder angemessenen Information von Eltern, Erziehungsberechtigten oder anderen Fachkräften mit deR Schweigepflicht in Konflikt kommt, muss der Analytiker die klinische Situation, das Alter und den Entwicklungsstand berücksichtigen und dies gegen die Notwendigkeit abwägen, die Eltern/Vormund und andere Fachleute angemessen zu informieren.“ 23 Einige Analytiker, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, haben Wege entwickelt, die Wiederherstellung der Eltern-Kind-Beziehung einzubeziehen, wenn dies als eines der Behandlungsziele möglich ist, gleichzeitig mit der Wiederherstellung des Weges des Minderjährigen für eine progressive Entwicklung (z. B. Novick und Novick, 2013). Diese Konzeptualisierung vermeidet eine defensive Spaltung, die Eltern ausschließt und gleichzeitig die Vertraulichkeit der Arbeit des Minderjährigen an sich selbst schützt. In diesem Bereich kann es Raum für weitere Diskussionen von IPV-Gruppen geben, die sich mit der Kinder- und Jugendlichenanalyse befassen: der Ausschuss für Kinder- und Jugendlichenanalyse (COCAP, Committee on Child and Adolescent Psychoanalysis), der Ausschuss für Kindesmissbrauch und das Interkomitee-Projekt zum Thema Kindesmissbrauch. 23 Empfehlung der Ethikkommission an den Beirat, Januar 2017.
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