01-2015 D

AS

SINN? ich geprägten KULTUREN

Wie ich Erfolg definiere In den Augen von Westeuropäern und Nord- amerikanern ist derjenige erfolgreich, der sich aus eigener Kraft nach oben arbeiten und dort behaupten kann. Das erklärt unsere Bewunde- rung für Karrieren, die nach dem Muster: „Vom Tellerwäscher zumCEO oder Star“ verlaufen. Auf demWeg dazu mag es Unterstützung durch an- dere geben; echter Erfolg ist aber immer selbst verdient und selbst erarbeitet. In nichtwestlichen Kulturen ist Erfolg das, was dem Einzelnen dank der gemeinsamen Bemü- hung einer Familie oder eines Volkes möglich ist und was er selber zum Erfolg dieser Gruppe beitragen kann. Nelson Mandela wird in Afrika nicht deshalb als Held verehrt, weil er es vom Gefangenen zum Präsidenten schaffte, sondern weil er half, das Schicksal seines Volkes zum Gu- ten zu wenden. Individualität als höchstes Gut Wenn man fragt, wonach wir Westeuropäer am meisten streben und was wir als höchstes Gut betrachten, dann gehören „individuelle Entfal- tung und Unabhängigkeit“ ganz oben auf die Liste. Unser Erziehungsverständnis, unser Bil- dungsverständnis und unsere Lebenspraxis zie- len in diese Richtung: Der Einzelne findet die auf ihn zugeschnittene Aufgabe im Leben, bildet sich seine eigene Meinung, kann sich behaup- ten und ist von anderen möglichst unabhängig (in seinem Denken, in seiner Lebensführung und materiell). Ein eigenes Einkommen, ein ei- genes Auto, ein eigenes Häuschen, genug Geld fürs Alter, eine eigene (kleine) Familie, gute Ge- sundheit, auf niemanden angewiesen sein…Für diese Ziele leben wir und wir geben alles, um sie zu erreichen. Und wir fühlen uns schlecht, wenn uns etwas davon nicht gelingt, uns verwehrt bleibt oder zerbricht. Die christlich gefärbte Variante dieses Strebens äussert sich in der Betonung unserer ganz per- sönlichen Gaben und Neigungen, wenn es um unseren Dienst für Gott geht. Besonders gern gesungene Kirchen- und Lobpreislieder sind auf den Einzelnen zugespitzt:„Du berührst mein Herz“ – „Ich in dir, du in mir“ – „Ich darf vor dir stehn“ usw. Zu den christlichen Buchbestsel- lern gehören Titel wie: „Mein geliebtes Kind“ – „Ich bin bei dir“ – „Folge deinem Traum“ usw. Wir betonen die dem Einzelnen zugesprochene Gnade, die Freiheit, den Zuspruch von Gott, der

jeden von uns in seinem eigenen Herz erreichen möchte. Die Stärke dieser Prägung? Sie unterstreicht den Wert und die Würde jeder Person. Dafür machte sich auch Jesus stark. Obwohl er in ei- ner Kultur lebte, in der das Kollektiv im Zentrum stand, ging er auf Einzelne zu, rief sie zu sich, be- schenkte sie und wertete solche auf, die in der Masse untergingen: Frauen, Arme, Versager und Ausgeschlossene. Wege aus der Ich-Falle Doch es gibt auch Schattenseiten. Die westliche Sicht aufs Leben ist einseitig und birgt Gefahren. Die bei uns absolut gesetzte Individualität führt zu einem Individualismus, der bis tief in unsere christlichen Gemeinden hineinreicht. Aus Ich- stärke wird Ichbezogenheit. Daran krankt un- sere westliche Welt: Je mehr wir für uns wollen, umso leerer fühlen wir uns. Je mehr wir besit- zen, umso weniger Sinn sehen wir in unserem Dasein. Nirgendwo nehmen psychische Erkran- kungen und Vereinsamung so zu wie in Gesell- schaften, in denen sich alles um mich dreht und ich auf Knopfdruck alles haben kann. Das zeigt uns, dass wir den Sinn des Lebens nicht in uns selbst und in der Erfüllung unserer Träume finden. Um aufzublühen, brauchen wir etwas, das den Mikrokosmos unseres Egos über- steigt: Gott, sein globales Reich, seine Mission, seine Gemeinde, Freunde. Wir gesunden aus- gerechnet dort, wo wir uns auf das einlassen, was unsere Kultur so gerne vermeidet: auf die Abhängigkeit von Gott und ein verbindliches Miteinander mit anderen Menschen. Darin sind uns Christen in anderen Teilen der Welt enorme Vorbilder. Thomas HÄRRY ist Referent, Buchautor und Fachdozent am Theologisch-Diakonischen Se- minar in Aarau, wo er mit seiner Familie lebt.

1 Siehe John J. Pilch & Bruce Mailna (Editors): Hand- book of Biblical Social Values . Peabody: 1993.

Made with FlippingBook - Online catalogs