Handeln zeitlebens prägen wird: Eine Gruppe von Offizieren, die vom Geist der Französischen Revolution erfasst sind, vom Wunsch nach Volksherrschaft und einer Verfassung, verweigern dem neuen Zaren die Gefolgschaft, nehmen mit etwa 3000 bewaffneten Soldaten auf einem Platz in Sankt Petersburg Stellung, um Nikolaus zur Annahme einer Verfassung zu zwingen. Der frisch gekürte Monarch kann den schlecht vorbereiteten Aufstand der »Dekabris- ten«, wie die Aufrührer nach dem russi- schen Wort für Dezember genannt wer- den, schnell niederwerfen. Doch fortan ist er besessen von dem Ziel, jeglichen Protest, jede Unmutsäußerung gegen seine Herrschaft im Keim zu unterdrü- cken. Der Kampf gegen die Revolution und alles, was diese in seinen Augen be- fördern könnte, wird für Nikolaus I. zur Lebensaufgabe, die er mit großer Ener- gie und militärischer Disziplin angeht. Moderne liberale Ideen lehnen der Zar und seine Berater ab, stattdessen propagieren sie einen reaktionären Dreiklang: Die Zukunft Russlands soll in der Autokratie, also der unein- geschränkten Herrschaft des Zaren, in der Orthodoxie, dem überlieferten Glauben der russischen Kirche, und schließlich in einer Besinnung auf das traditionelle Russentum liegen. Das wichtigste Mittel, um dieses konserva- tive Programm gegen das Freiheitsstre- ben in der Gesellschaft durchzusetzen, gibt Nikolaus sich selbst an die Hand: Er ruft eine neue Geheimpolizei ins Leben, die echte und vermeintliche Gegner gnadenlos verfolgt. Zudem ver- schärft er die Zensur, schränkt den Zu- gang zu den Universitäten für Nicht- adelige ein und lässt aus den Lehr- plänen alles streichen, was seinen Untertanen widerspenstige Gedanken in den Kopf setzen könnte. 1830 sieht Nikolaus sich in seinem Misstrauen, der Furcht vor Umstürzlern bestätigt: In Polen, dessen Kerngebiet als halbwegs autonomes Königreich zum russischen Imperium gehört, er- hebt sich der Adel gegen die Zarenherr- schaft. Doch die Folgen des Aufstands für Polen sind fatal: Russische Truppen können ihn ohne größere Probleme
niederschlagen, und nun beraubt der Zar seine polnischen Untertanen ihrer Autonomie, verschärft er die Unter- drückung, etwa indem er mehr und mehr die Verwendung der russischen Sprache vorschreibt. Als dann 1848 eine demokratische Revolutionswelle weite Teile Europas erfasst, bleibt es in Russland ruhig. Dennoch: Durch die Ereignisse im Aus- land sieht sich Nikolaus erneut in seiner Paranoia bestätigt und verschärft sein polizeistaatliches Regime noch weiter. Zudem bekämpft er den aufständischen Geist auch außerhalb Russlands: 1849 marschieren seine Truppen in Ungarn ein und stürzen gewaltsam die letzte bedeutende Revolutionsregierung Europas. War Nikolaus’ Vorgänger Zar Alexander I. aufgrund seiner Erfolge gegen Napoleon Bonaparte noch als »Retter Europas« gefeiert worden, so gilt sein Nachfolger nun als »Gendarm Europas«. Zum Verhängnis wird dem militär- begeisterten Herrscher dann ausge- rechnet ein Krieg gegen Ende seiner langen Regierungszeit: 1853 zieht Russ- land gegen das als schwach eingeschätz- te Osmanische Reich, doch Großbritan- nien und Frankreich fürchten einen Machtzuwachs des Zarenreiches und schalten sich in den Konflikt ein. Der Krimkrieg, benannt nach dem Haupt- schauplatz der Kämpfe, endet für das Zarenreich 1856 mit einer demütigen- den Niederlage, die auch die wirtschaft- liche und organisatorische Rückstän- digkeit des vermeintlichen Giganten Russland offenbart, etwa die schlechten Versorgungswege der Armee. Nikolaus I. muss diese Schmach jedoch nicht mehr miterleben: Noch während des Krieges ist er 1855 im Alter von 58 Jahren gestorben.
Hauptstadt für sein Reich errichten. Zwangsverpflichtete Bauern, Kriegs- gefangene und Sträflinge müssen ganze Wälder abholzen, um Pfähle, die die Gebäude tragen sollen, in den Morast zu rammen. Zehntausende Arbeiter sterben an Hunger, Krankheiten oder Kälte. Am Ende jedoch entsteht eine glänzende neue Metropole, die fortan als Russlands Fenster zum Westen dient: Sankt Petersburg. Und dann ist da noch der Große Nordische Krieg, ein epischer, schließ- lich siegreicher Konflikt mit Schweden, der sich ab 1700 über 21 Jahre erstreckt. Es ist nicht der einzige Kampf, in den Peter seine Soldaten schickt, doch es ist der längste, wichtigste, opferreichste. Am Ende haben mehr als 100 000 Un- tertanen ihr Leben gelassen – und Russ- land hat Schweden große Gebiete ab- nehmen können, das skandinavische Königreich als stärkste Kraft im Ost- seeraum abgelöst. Das Zarenreich, noch eine Generation zuvor für viele Euro- päer ein Kuriosum am Rande des Kontinents, hat sich fest im Kreise der europäischen Großmächte etabliert. Peter lässt sich fortan »der Große« nennen. Mehr noch: Er nimmt den Titel »Allrussischer Kaiser« an. Doch allen Triumphen zum Trotz: Die Liebe seines Volkes kann der große Zar nie gewinnen. Zu viele Opfer ver- langt er seinen Untertanen ab. Und so sind Adelige wie Bauern erleichtert, als der Kaiser 1725 mit 52 Jahren an einer Blutvergiftung durch Nierenversagen stirbt. Für alle seine Nachfolger jedoch, bis hin zu Wladimir Putin, ist er ein un- verrückbares Monument, die Referenz- größe russischen Herrschertums, an der sie sich abarbeiten müssen.
Nikolaus I. 1796–1855 Herrschaftszeit: 1825–1855
GUT 100 JAHRE nach dem Tod Peters des Großen, im Dezember 1825, kommt sein Ururenkel Nikolaus an die Macht. Der Amtsantritt des Zaren beginnt mit einem bedrohlichen Erlebnis, das sein
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