P.M. Schneller Schlau

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unerwartet ganz viele junge Quallen auf«, so Kunzmann. »Wir haben dann festgestellt, dass sich die Tiere im Wasse- raufbereitungssystem vermehrt haben – also ausgerechnet dort, wo wir es am we- nigsten erwartet hätten.« QUALLE ALS LEBENSMITTEL Während Kunzmann noch über den Fak- tor Zufall in der Forschung spricht, de- monstriert er eine mögliche Verwen- dung der Nesseltiere. Er greift beherzt in ein Becken und holt mit bloßer Hand eine Cassiopeia-Qualle heraus. »Diese Art hat zwar auch Nesselzellen, ist aber für uns Menschen ungefährlich.« Die Tierschutzbestimmungen schreiben eine Tötung der Nesseltiere durch kurzes Einfrieren vor. Ein paar Minuten später nimmt er sich eine Küchenschere, schneidet einige Streifen vom Schirm der Qualle ab und bietet sie zur Verkos- tung an. Die Konsistenz erinnert an Algen aus der asiatischen Küche: leicht gallertar- tig, jedoch nicht unangenehm glitschig oder schleimig. Die Masse zergeht, ohne zu kauen, durch leichten Druck zwischen Zunge und Gaumen. Der Geschmack ist dezent salzig, fast neutral. Somit ließe sich die Rohmasse nach Belieben aroma- tisieren. Quallen bestehen zu 95 bis 98 Pro- zent aus Wasser, im verbleibenden Rest finden sich jedoch überraschend viele wertvolle Nährstoffe. »Die Trockenmasse enthält mehr als 60 Prozent Protein – und damit mehr als Fisch«, erklärt Kunz- mann. Darunter auch hochwertige Ami- nosäuren. Zudem habe man ungesättigte Fettsäuren, Vitamine und verschiedene Carotinoide nachgewiesen, die häufig in Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden. Aber schmeckt so wirklich die Zu- kunft der Nahrungsmittelversorgung, oder sind Quallen doch nur ein Nischen- produkt für eine kleine Gruppe, die neue kulinarische Besonderheiten sucht? Laut Kunzmann alles nur eine Frage der Gewohnheit. »Ein spannender Teil unse- rer Forschung ist die Frage, wie wir dem durchschnittlichen Mitteleuropäer die Qualle als Nahrungsmittel nahebringen. Mit dem direkten Organismus ist das

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Quallen wie die Aurelia aurita sind in Nord- und Ostsee sowie im Atlantik nicht nur weit verbreitet, sondern mancher- orts gar eine Plage. Und der Klimawan- del mit den steigenden Meerestempera- turen könnte Simulationen des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven zufol- ge die Vermehrung vieler Quallenarten in freier Wildbahn begünstigen. Warum also nicht einfach die Quallen fischen, statt sie zu züchten? Bislang fehlt es etwa an ausreichend Forschung zur Rolle der Qualle im maritimen Ökosystem. Auch sind Quallen glitschig, zerbrechlich und dadurch mit konventionellen Fischerei- methoden nur schwer zu fangen. Kunz- manns Ziel ist es daher weiterhin, die Zucht der Quallen beherrschbar zu ma-

chen. Dafür variiert er nun einzelne Pa- rameter wie Licht, Temperatur und Fut- ter, um die Quallen zur Vermehrung anzuregen. Ein langwieriger Prozess, weil man in den Versuchsreihen immer nur eine der Bedingungen verändern kann und anschließend mitunter lange warten muss, bis sich ein Effekt im Ver- gleich zur Kontrollgruppe beobachten lässt. Ein kompletter Vermehrungszyklus kann je nach Art bis zu einem Jahr dau- ern. Aber manchmal hilft den Forschen- den dabei der Zufall. »Plötzlich tauchten

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