FORSCHUNG | EVOLUTION
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Das englische Buch »Bitch« ist auch auf Deutsch erschienen (Malik, 432 Seiten, 22 Euro)
können verschwenderisch mit Unmengen von Sperma umgehen, Weibchen haben dagegen einen begrenzten Vorrat an Eizellen und ste- cken oft viel Energie in Schwangerschaft und Brutpflege. Deswegen konzentrieren sie sich auf den vielversprechendsten Partner. So habe ich es auch gelernt: Sperma ist preiswert, Eizellen sind teuer. Also sind Männchen promisk und Weibchen wählerisch. Dieses Paradigma galt beinahe als Naturgesetz. Bis die Wissenschaftlerin Sarah Blaffer Hrdy Ende der 1960er-Jahre Langu renweibchen in Indien beobachtete: Sie verhielten sich überhaupt nicht keusch und wählerisch, sondern initiierten Sex mit Männchen außerhalb ihrer Gruppe. Weibchen setzen Sex genauso stra tegisch ein wie Männchen, vermutete Hrdy, zu einer Vielzahl von Zwecken. Die Langurenweib chen verschleiern mit ihrem Verhalten, wer der Vater ihrer Jungen ist – denn die Männchen töten häufiger die Jungen jener Weibchen, mit denen sie sich nicht gepaart haben. Bei Löwen ist es ähnlich. Inzwischen wissen wir von 60 oder 70 Säugetier arten, die sich so verhalten. Wie reagierte die Wissenschaft auf Hrdys Thesen? Als sie ihre Arbeit auf einer Konferenz vorstellte, sagte ein bekannter Fachkollege zu ihr: »Gib’s zu, Sarah. Du bist einfach nur geil, oder?« Und als die Evolutionsbiologin Patricia Gowaty zeigte, dass die Gelege der vermeintlich monogamen Singvögel oft mehrere Väter haben, behauptete ein promi nenter Kollege, in dem Fall seien die Mütter wohl zum Sex gezwungen worden. Letztlich bewiesen Daten besenderter Vögel, dass die Weibchen in benachbarte Reviere fliegen, um sich dort mit Männchen zu paaren. Es dauerte zehn Jahre, bis sich die Lehrmeinung änderte. Solche Mythen sind erstaunlich hartnäckig. Ein Beispiel, das Sie schildern, ist das des Schlankschnabelhähers. Zwei Wissenschaftler beobachteten das Verhalten der Vögel über viele Jahre. Sie gaben sich große Mühe zu erklären, wie die friedlichen Männchen eine Hierarchie etablierten, indem sie einander
n Ihrem Buch »Bitch« geht es um die Macht der Weibchen und ihren Einfluss auf die Evolution. Warum ein frauenfeindlicher Begriff als Titel? LUCY COOKE: Viele der Weibchen in meinem Buch sind aggres siv oder dominant, weshalb man sie als »Bitches« (zu Deutsch etwa »Zicken«) bezeichnen könnte. In den meisten Fällen aber sind sie einfach gute Mütter. Sie tun, was nötig ist, damit sie und ihre Nachkommen über leben. Ich wollte den Begriff zurückerobern – und solche Verhaltensweisen für Frauen akzeptabel machen. Wenn sich Männer dafür nicht schämen müssen, warum sollten Frauen es tun?
Sie beschreiben Weibchen, die viele Männchen zum Sex auffordern, Konkurrentinnen kalt- stellen oder ihre Partner nach der Paarung fressen. Solch vermeintlich unweibliche Verhaltensweisen wurden von der Evolutions- forschung lange ignoriert oder umgedeutet, sagen Sie. Wie kommen Sie darauf? Als ich Evolutionsbiologie studierte, lautete das Paradigma: Weibchen sind zurückhaltend und keusch, Männchen suchen sich möglichst viele Partnerinnen. Dann filmte ich in Afrika Löwinnen – und erfuhr, dass sie sehr promisk sind und sich oft mit verschiedenen Männchen paaren. Ich war völlig verblüfft! Als ich später tiefer in das Thema einstieg, war ich schockiert, auf wie vielfältige Art und Weise weibliche Tiere marginalisiert und missverstanden worden sind. Unser Blick auf das tierische Paarungsverhalten ist kulturell verzerrt. Gibt es für männliche Promiskuität nicht eine gute biologische Erklärung? Männchen
LUCY COOKE Die Britin studierte an der University of Oxford Zoologie und arbeitet als Autorin (»Die erstaunliche Wahrheit über Tiere«), Wissenschaftsjour- nalistin, Moderatorin und Produzentin von Dokumentarfilmen, etwa für die BBC
30 P.M. 02/2024
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