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nen wir tatsächlich von der Natur lernen – etwa beim Thema geschlechtliche Vielfalt. Die Biologie wird häufig als Argument gegen geschlechtliche Vielfalt herangezogen. Dann heißt es: In der Natur existieren nur zwei Arten von Geschlechtszellen – und deswegen auch nur zwei Geschlechter. Es gibt nur Spermien und Eizellen, das stimmt. Aber die Manifestation des Geschlechts ist alles andere als binär. Das unterstreicht der Blick ins Tierreich. Manche Arten, darunter einige Fische und Frösche, können im Laufe ihres Lebens das Geschlecht wechseln. Bei anderen entscheiden nicht Geschlechtschromosomen, sondern Umwelt­ einflüsse darüber, welche Keimdrüsen sie ausbil­ den. Die Vorstellung, dass es zwei geradlinige, getrennte Pfade der Geschlechtsentwicklung gibt, ist überholt. Die Pfade sind verschlungen, und daraus kann eine enorme Vielfalt entstehen. Die Natur kann uns lehren, diese Vielfalt zu schätzen. Warum? Sie zeigt uns, dass Vielfalt nichts Krankhaftes ist, sondern im Gegenteil der Treibstoff der Evolution. Ohne sie würden wir uns nicht weiterentwickeln. Auch Weiblichkeit kann viele Formen annehmen. Wer weiß, in welche Richtung die Menschheit steuert? Vielleicht leben wir eines Tages unter der Erde und haben wie Maulwurfweibchen Ovotestes: Die produzieren zwar keine Spermien, aber große Mengen an Testosteron. So können auch die Weibchen viel Muskelgewebe aufbauen, um Tunnel zu graben. Viele Forschende, mit denen Sie gesprochen haben, beschreiben sich selbst als feminis- tisch. Wenn eine patriarchale Ideologie den Erkenntnisgewinn ausbremst, tut eine femi- nistische Ideologie das nicht genauso? Menschen haben zwangsläufig Ideologien. Es hilft, die eigenen Vorurteile zu erkennen und damit offen umzugehen. Patricia Gowaty, eine offen feministische Wissenschaftlerin, sagt etwa: »Ich schreibe Arbeiten mit Leuten, die anderer Meinung sind als ich, weil ich meine Vorurteile herausfiltern will. Ich bin Feministin, aber ich möchte keine voreingenommene Arbeit produ­ zieren.« Das finde ich einzigartig und sehr mutig. Um Jahrtausende patriarchaler Vorurteile zu korrigieren, braucht es vermutlich ein paar Femi­ nistinnen und Feministen, die einen frischen Blick auf die Dinge werfen.

Pavianmütter stillen ihre Jungen auch beim Tragen. Doch die richti­ ge Technik will gelernt sein, gerade wenn der Nachwuchs noch klein und schwach ist. Viele Erstgeborene verhun­ gern deshalb

· G esellschaftliche Rollenbilder aus der Anfangszeit der modernen Biologie prägen bis heute die Forschung. · D as kann den Blick auf die Tierwelt verzerren. So über- sahen Wissenschaftler lange, dass auch viele Weibchen sich aggressiv oder dominant verhalten. · A uch bei der Partnerwahl sind weibliche Tiere längst nicht so passiv und monogam wie lange angenommen.

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