P.M. Magazin

GEHEIMNISSE | SEEGRASWIESEN

zent Sonnenlicht. Je mehr Licht, desto besser sprie- ßen die Halme. In der Ostsee liegt der günstigste Bereich zwischen einem und drei Meter Tiefe, manchmal wachsen sie sogar noch acht Meter unter der Wasseroberfläche. An vielen Orten jedoch ver- schlechtert der Mensch die Lichtbedingungen: Noch immer geraten hier Düngemittel aus der Landwirtschaft ins Meer, fördern das Algenwachs- tum und trüben damit das Wasser. Der Bereich, in dem Seegras gedeihen kann, ist also begrenzt – auch aus physikalischen Gründen: Da, wo sich die Wellen brechen, ist es zwar gewöhn- lich heller, aber wiederum zu unruhig, um die Pflanzen dauerhaft zu halten. Doch wo sie wachsen, erzeugen sie unter idealen Bedingungen ein selbst- verstärkendes System, das sogar die Küsten stabili- siert. »Je mehr Seegras vorhanden ist, desto mehr Energie entzieht es der Strömung und desto mehr beruhigt es an dieser Stelle das Wasser«, sagt Paul. Die Wiesen wirken im Meer wie oberirdische Wäl- der, die Windböen über offenen Feldern bremsen. F ür Uferbereiche und Küsten bedeutet das: Wo Seegras wächst, treffen Wellen weniger stark auf Strände und Klippen, und das ist durch- aus wünschenswert. »Wir haben in Deutschland vielerorts das Problem, dass an Stränden Sand ver- loren geht und Küsten erodieren«, sagt Paul. See- graswiesen können diesen Prozess bremsen – aller- dings nicht stoppen. Ist die Strömung zu stark, zieht das auch die Pflanzen in Mitleidenschaft und ver- hindert sogar, dass sie wachsen. Will man das Grün erforschen, muss man keine aufwendigen Tauchgänge unternehmen. Es genü- gen Neoprenanzug und Schnorchel. Fachleute un- tersuchen, wie Krankheitserreger dem Seegras zu- setzen und wie es robuster gemacht werden kann. Die Biochemikerin Anne Brauer zum Beispiel ging der Frage nach, welche Mikroorganismen das Kei- men der Samen fördern und welche ihm schaden. Die Befunde könnten dabei helfen, Seegraswie- sen wesentlich effektiver als bisher aufzuforsten. Denn bisher werden dafür einzelne vorgezogene Pflänzchen per Hand im Meeresboden eingebud- delt. Aus der Luft betrachtet ähnelt so ein Muster dem einer menschlichen Haartransplantation. Ein- mal angewachsen, kann sich eine Population unter günstigen Bedingungen rasant vermehren – genau- so, wie sich bereits vorhandene Bestände dann erholen können. Doch wo Wiesen großflächig ver- schwunden sind, dauert dieser Prozess sehr lange.

Sie lernen auch, wie jede Pflanze aufgebaut ist. Dass sie ein dichtes Wurzelwerk ausbildet, dass sie Blüten und Samen besitzt, so wie ihre Verwandten an Land, und dass sie doch eines von Letzteren un- terscheidet: Seegras weist keine Poren auf den Blatt- oberflächen auf. Landpflanzen regulieren darüber den Gas- und Wasseraustausch mit ihrer Umwelt. Seegrasblätter sind stattdessen mit einer feinen Membran umgeben, durch die Gase und Nährstoffe zwischen Wasser und Pflanze ausgetauscht werden. Dass Seegras eine Grünpflanze ist, bedeutet auch: Es benötigt viel mehr Licht zum Überleben als Algen. Das Gewöhnliche Seegras (Zostera marina) etwa, das in der Ostsee ausschließlich wächst, braucht am Meeresboden noch mindestens 15 Pro-

Gut gebettet Bis in die 1950er- Jahre hinein wurden in Norddeutschland Matratzen aus trockenem Seegras gefertigt. Kleine Ma- nufakturen nutzen es auch heute noch zum Füllen von Kissen

Gesunde Wiese, gesunde Kühe KETTENREAKTION Rundschwanzseekühe, auch Manatis genannt, haben an ihren Lippen hochempfindliche Tasthaare, mit denen sie alles in ihrer Umgebung untersuchen. Oripulation nennen Forschende dieses Vorgehen. Hier oripuliert und verspeist ein Florida-Manati die Halme von Seegras, das es in karibischen Gewässern geerntet hat. Wasserpflanzen sind die Leibspeise von Manatis, täglich fressen sie davon bis zu neun Prozent ihres eigenen Körpergewichts. Wie wichtig Seegraswiesen für ein gesundes Ökosystem sind, zeigt sich an Manatis wie bei kaum einem anderen Tier: Fehlt das Grün, ver- hungern sie. 2021 wurden innerhalb weniger Monate vor der Küste Floridas mehr als 760 tote Manatis gefunden. Algen, die sich durch hohe Konzen­ trationen von Düngemitteln und Nährstoffen stark vermehrt hatten, nah- men den Wiesen die Lebensgrundlage – und damit auch den Seekühen.

90 P.M. 02/2024

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