P.M. Magazin

In ihrer Freizeit untersuchte Inge Lehmann Stoßwellen, die bei Erdbeben den Planeten durchlau­ fen. Sie erkannte, dass das Innere des an sich flüssigen Kerns fest ist

darüber zu wissen gab, und machte binnen weniger Jahre einen Abschluss in Geodäsie, der Wissenschaft von der Vermessung der Erde. Am 17. Juni 1929 kam es in Neuseeland zu einem schweren Beben der Magnitude 7,8. Vor Ort starben 17 Menschen, in Kopenhagen inspirierte es Inge Lehmann zu ihrer wichtigsten Entdeckung. Dort zeichneten Seismografen ihres Instituts nach dem Erdbeben die Wellen vom anderen Ende der Welt auf. Lehmann studierte die Aufzeichnungen dieses und anderer Erdbeben und versuchte, die An- kunftszeiten und die Stärke der Signale zu einem Bild des Erdinneren zusammenzusetzen. Sie war nämlich einem Rätsel auf der Spur: Während der flüssige Erdkern die S-Wellen glatt ver- schluckt, bündelt er die P-Wellen wie eine Linse das Licht. An manchen Orten auf der Erde sollten des- halb keinerlei P-Wellen von einem Erdbeben an- kommen, an anderen wären sie hingegen verstärkt. Lehmann wunderte sich, dass auch dort, wo keine P-Wellen zu erwarten waren, manchmal welche ge- messen wurden – und dass sie an anderen Orten stärker und zahlreicher erschienen als angenom- men. Anders als die Fachwelt hielt sie diese Phäno- mene für bedeutsam. Die Aufzeichnungen der da- maligen Seismografen – lange Papierstreifen voller Striche – ließen sich mit der Technik der Zeit nur schwer übermitteln oder vervielfältigen. Deshalb

veröffentlichten Forschende Berichte, in denen sie die Messdaten in Tabellen zusammenfassten. Leh- mann gelangte zu der Ansicht, dass diese Analysen oft wenig gründlich und gewissenhaft ausgeführt wurden. Deshalb besorgte sie sich, wo immer es ging, die Originalpapierstreifen und wertete sie selbst neu aus. ABLAGE IN DER MÜSLISCHACHTEL All dies tat Inge Lehmann in ihrer Freizeit. Jahre später erinnerte sich ihr Neffe, wie sie eines Sonn- tags im Garten saß, die Messdaten von Erdbeben in aller Welt vor sich ausgebreitet und in Müslischach- teln sortiert. Mit Erfolg: Sie erkannte, dass sich die Beobachtungen erklären ließen, wenn sie im Inne- ren des flüssigen Kerns – also genau im Zentrum der Erde – einen festen Erdkern von rund 2500 Kilo­ meter Durchmesser annahm. Nach jahrelanger Arbeit veröffentlichte sie ihre Ergebnisse 1936 in einem Artikel mit dem skurril kurzen Titel »P ʹ « – eine Abkürzung für »abgelenkte P-Wellen«. Erst nach und nach gab die Fachwelt ihr recht, doch diese Zeit hatte sie: Nach ihrer Verrentung im Jahr 1953 forschte Lehmann noch Jahrzehnte weiter. Sie starb 1993 mit 104 Jahren. Bis dahin hatte sie sich einen Namen in der Geologie gemacht und war für viele zum Vorbild geworden: als beharrliche For- scherin, die den Kern einer Sache finden will.

Michael Büker ist Astroteilchenphysiker, Science-Slammer und Wissenschaftsautor. In P.M. erklärt er die wich- tigsten Experimente der Wissenschaftsgeschichte, zusammen mit Kollegen plaudert er im P.M.-Pod- cast »Sag mal, du als Physiker« – erhältlich unter audible.de.

02/2024 P.M. 93

Made with FlippingBook flipbook maker