P.M. History

Europas größtes Monatsmagazin für Geschichte

10/2025

Deutschland 7,50 €

KUSCH

AGATHA CHRISTIE Das Leben der Queen of Crime war selbst ein Abenteuerroman

Ihre Entdeckung veränderte den Blick auf die Geschichte VERGESSENE REICHE KULTUREN AN NIL, INDUS UND DONAU

INDUS

HETHITER

KINDERSCHÄTZE

HORROR 1898 machten zwei Löwen am Fluss Tsavo im heutigen Kenia Jagd auf die Arbeiter der Uganda-Bahn

SPEISEN À LA CARTE Die Geburt des Restaurants bescherte

Faszinierende Masken, Puppen, Zaubertiere – eine Sammlung von altem japanischem Spielzeug

Frankreich auch eine kulinarische Revolution

www.pm-wissen.com

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VON PHARAONEN UND PYRAMIDEN

Eine unglaubliche Sammlung von Artefakten und Geschichten über das faszinierende Volk am Nil.

Sechs legendäre Herrscherinnen Ägyptens und ihre Geschichte: Von Nofretete bis Kleopatra

96 SEITEN, CA. 80 BILDER ISBN 978-3-98701-005-7 €(D) 19,99

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Editorial

Einmal Hochkultur und wieder zurück …

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

auch die Existenz von Zivilisationen ist endlich. Spezifische Kulturen, ihre technischen Leistungen sowie die Art und Weise ihres Zusammenlebens waren stets einzigartig, und es gab sie schon vor Jahrtausenden. Nicht jede hat in unse- rem Bewusstsein ihre Spuren so deutlich hinterlassen wie die ägyptische, die griechische oder die römisch-christliche. Doch seit Menschen sich zu Gesellschaften zusammenschlie- ßen, bilden sie auch Hochkulturen aus. Einige davon, etwa die mittelamerikanischen Olmeken oder die Schang-Kultur in China, sind in unserer eurozentri- schen Sichtweise aus dem Blickfeld geraten; andere hingegen existierten praktisch vor unserer Haustür, so auch auf dem Balkan, von denen uns reiche archäologische Funde aus der Zeit um 5000 bis 3500 v. Chr. berichten. Der Sprachwis- senschaftler Harald Haarmann sieht in diesen Fun- den den Beweis für eine frühe europäische Hoch- kultur, die er als „Donauzivilisation“ bezeichnet. Allerdings stößt er damit in der Forschung auf Skepsis. Das macht seine Theorie aber nicht weniger interessant. Denn je mehr die Archäologen finden, desto mehr Deutungs- fenster tun sich auf: Stehen wir im 21. Jahrhundert am Be- ginn einer wissenschaftlichen Sensation? Wir stellen Ihnen in diesem Heft außerdem noch die ge- heimnisvolle Indus- oder Harappa-Kultur vor, die um 2800 v. Chr. eine der frühesten städtischen Zivilisationen hervor- brachte, die politisch und militärisch einflussreichen Hethiter im Kleinasien des 2. Jahrtausends v. Chr. und das antike Reich von Kusch im heutigen Sudan, dessen Erforschung man lange für einen Nebenzweig der Ägyptologie ansah.

Ralph Kreuzer, Stellv. Chefredakteur P.M. HISTORY

Rückseite einer Figurine der Cucuteni-Kultur, Rumänien (Terrakotta, um 4500 v. Chr.)

Schreiben Sie uns gern, wie Ihnen diese Ausgabe gefallen hat: pm-history-redaktion@verlagshaus.de!

Herzlich Ihr

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P.M. HISTORY – OKTOBER 2025

Inhalt

10/2025

3 Editorial 6 Arena ,VS[ CVOU MFISSFJDIWFSNJTDIUF(FTDIJDIUFO und Neuigkeiten aus der Forschung 16 Agatha Christie Das abenteuerliche Leben der Krimi-Königin 24 Meisterwerk: Canaletto „Das Becken von San Marco am Himmelfahrtstag“ Vergessene Großreiche 26 Höhepunkte der Zivilisation &THJCU[BIMSFJDIF)PDILVMUVSFO EJFIFVUFLBVN OPDIKFNBOEFNFJO#FHSJŢTJOE 34 Indus-Kultur %JF)BSBQQB,VMUVSCM¸IU+BISFJN*OEVTUBM  ehe sie unter mysteriösen Gründen untergeht 42 Hethiter Jahrhundertelang prägen die Hethiter das Geschehen in Kleinasien 50 Kusch Das nubische Königreich bietet dem übermächti- gen Nachbarn Ägypten lange die Stirn 58 Donauzivilisation

42 FAST VERGESSEN Vor mehr als 3000 Jahren beherrschen die Hethiter ein riesiges Reich in Kleinasien. Selbst das mächtige Ägypten im Süden

Eine umstrittene These: Stammt die älteste Hochkultur Europas aus dem Donauraum?

61 Buchtipps zum Titelthema

66 DIE GEBURT DES RESTAURANTS In Paris entsteht im 18. Jahrhundert eine neue Institution: das Restaurant. An- fangs steht noch die Gesundheit im Zen- trum der exklusiven &SţOEVOH EPDIEBT ändert sich später

64 Zeitreise: Die „Wilden“ Kanadas Jacques Cartier erkundet den Sankt-Lorenz-Golf 66 Kulinarische Revolution Im 18. Jahrhundert wird das Restaurant geboren 74 Die Menschenfresser von Tsavo Zwei Löwen töten in Ostafrika Eisenbahnarbeiter 80 Interview: Geschichte aktuell Rebecca Jackson: Messsysteme 84 Spaß aus dem Fernen Osten Blick in eine japanische Spielzeugsammlung 92 Anschauen, lesen, erleben 57 .VTFVNTVOE#VDIUJQQT 94 Rätselhaft Kreuzwort- und Bilderrätsel 96 Leserbriefe & Vorschau; Impressum 98 Sprengsatz

Chronologie

2600 v. Chr. Im Industal entsteht die Harappa-Kultur Seite 34

1180 v. Chr. Die Hethiter geben ihre Hauptstadt Hattuša auf Seite 42

750 v. Chr. Die nubischen Herrscher von Kusch erobern Ägypten Seite 50

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Europas größtes Monatsmagazin für Geschichte

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Unser Cover Großes Bild: Der „Römische Kiosk“ in Naqa im heutigen Sudan war vermutlich ein Tempel zu Ehren der Göttin Hathor. Die Kuschiten über- nahmen in ihrer Spätphase oft römisch-griechische Elemente in der Architektur

AGATHA CHRISTIE Das Leben der Queen of Crime war selbst ein Abenteuerroman

Ihre Entdeckung veränderte den Blick auf die Geschichte VERGESSENE REICHE KULTUREN AN NIL, INDUS UND DONAU

INDUS

HETHITER

CHÄTZE KINDERS

HORROR 1898 machten zwei Löwen am Fluss Tsavo im heutigen Kenia Jagd auf die Arbeiter der Uganda-Bahn

SPEISEN À LA CARTE Die Geburt des Restaurants bescherte

Faszinierende Masken, Puppen, Zaubertiere – eine Sammlung von altem japanischem Spielzeug

Frankreich auch eine kulinarische Revolution

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PMH2510_u1-u1.indd Alle Seiten

26.08.25 11:15

50 SCHWARZE PHARAONEN Jahrhunderte GSJTUFOTJFFJO%BTFJOJN4DIBUUFOEFS€HZQUFS  doch dann besiegen die Kuschiten den Erzfeind

WFSNBHFTOJDIU EJFWFSIBTTUFO,POLVSSFOUFO[VVOUFSXFSGFO Umso mehr Rätsel wirft der plötzliche Niedergang der Hoch- LVMUVSBVG EJFOBDIJISFN,PMMBQTGBTUJO7FSHFTTFOIFJUHFS U

16 QUEEN OF CRIME Ihre

Krimigeschichten um Hercule Poirot und Miss Marple machen sie weltberühmt. Dabei gleicht Agatha Christies Leben selbst einem Abenteuerroman

74 MENSCHENJÄGER Am Tsavo-Fluss im heuti- gen Kenia terrorisieren zwei Löwen das Camp der Uganda-Bahn und fressen unzählige Arbeiter

1534 Jacques Cartier trifft im heu- tigen Kanada auf Indigene Seite 64

1898 Zwei Löwen töten am Fluss Tsavo über 130 Menschen Seite 74

1928 Agatha Christie reist allein in den Nahen Osten Seite 16

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P.M. HISTORY – OKTOBER 2025

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P.M. HISTORY – OKTOBER 2025

Arena

KANADA

SCHAUPLATZ Neuland

L’Anse aux Meadows

L’ANSE AUX MEADOWS ist eine spektakuläre archäologische Fundstätte an der Nordspitze der kanadischen Insel Neufundland: Der Ort ist der erste bestätigte Beweis, dass Wikinger vor mehr als 1000 Jahren und damit lange vor Christoph Kolumbus Nordamerika erreichten. 1961 von Archäologen entdeckt, offenbarte die Stätte Überreste von Langhäusern, Schmieden und Werkzeugen – und revolutio- nierte damit die amerikanisch-europäische Geschichte. Der Ortsname L’Anse aux Meadows ist eine französisch-englische Mischform, wie sie im Osten Kanadas häufi- ger vorkommt, und bedeutet so viel wie „Die Bucht bei den Wiesen“.

Arena

„Deutschland siegt auf allen Fronten“ prangt auf dem Banner, darüber ein riesiges „V“. Im Juli 1941 nimmt die Wehrmacht Paris ein und demütigt den Gegner Frankreich, indem sie BVTHFSFDIOFUEFO&JŢFMUVSNBMT Plakatwand missbraucht. Französi- sche Soldaten hatten vor der Erobe- rung die Kabel des Lifts durchtrennt, deutsche Soldaten mussten den Turm erklettern. Auch eine Hakenkreuz- ŤBHHFXVSEFHFIJTTU%BTő7ŏTUFIU nicht für das Vichy-Regime, die nazitreue Marionettenregierung, die bis zum Ende des Krieges die südliche Hälfte Frankreichs verwaltete, son- dern für victory . Zu dieser Zeit war das alliierte „V“-Symbol bereits so po- pulär, dass selbst das Dritte Reich auf &OHMJTDI[VS¸DLHSJŢ VNTFJOFO4JFH zu verkünden. Die Nazis behaupteten jedoch, das „V“ stünde für „Viktoria“, womit sie eine germanisch-lateinische Tradition heraufbeschwören wollten. Winston Churchill wiederum soll gewitzelt haben, das „V“ stünde für „verloren“, und die Resistance dich- tete den Siegesspruch ebenfalls um, indem sie einen Buchstaben änderte: „Deutschland liegt auf allen Fronten“ prangte bald auf vielen Hauswänden. Propa- ganda EIN FOTO UND SEINE GESCHICHTE

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Lehrstunde in Metal: Run to the Hills

MIT DONNERNDEN GITARRENRIFFS und der markanten Stimme von Bruce Dickinson verleiht die britische Heavy-Metal-Band Iron Maiden 1982 einem für das Genre ungewöhnlichen Thema Gehör. Denn hinter „Run to the Hills“, veröffentlicht auf ihrem dritten Studioalbum „The Num- ber of the Beast“, steckt ein ernster Hintergrund: die gewaltsame Inbesitz- nahme Nordamerikas und die Leidensgeschichte der indigenen Völker. Aus der Feder von Bassist Steve Harris erzählt der Song aus zwei Perspektiven. Die erste Strophe beklagt aus Sicht eines indigenen Erzählers die Vertrei- bung, das Leid und die Auslöschung seiner Kultur durch die weißen Siedler, denen man nur durch Flucht in die Berge entkommen kann. Obwohl sich der Stamm der Cree nach Kräften wehrt („We fought him hard, we fought

WAS WÄRE, WENN … ... es keinen Marshallplan gegeben hätte?

WAS IST WIRKLICH PASSIERT?

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Trümmern. Städte, Fabri- ken, Verkehrsinfrastruktur waren zerstört. Um den wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch zu verhindern, riefen die USA 1948 den Marshallplan ins Leben. Mit rund 13 Milliarden US-Dollar halfen sie West- europa, Hunger und Not zu lindern und die Industrie wieder aufzubauen.

WARUM IST DAS WICHTIG?

Der Marshallplan war weit mehr als ein Hilfsprogramm. Er stabilisierte Demokratien, schwächte kommunis- tische Parteien und schuf ein westli- ches Bündnis gegen die Sowjetunion. So wurde der Grundstein für die spä- tere EU und die NATO gelegt. Ohne diese Hilfen hätte Europa länger unter Hunger, politischer Radikalisierung und wirtschaftlichem Chaos gelitten.

KOMPLEXES THEMA In „Run to the Hills“ von Iron Maiden geht es um den Kampf zwischen den Indigenen Amerikas und den europäischen Siedlern

him well / Out of the plains, we gave him hell“), ist der weiße Mann sieg- reich, weil in der Überzahl („But many came, too much for Cree / Oh, will we ever be set free?“). Im zweiten Teil steht einer der Soldaten aus Europa im Fokus. Über ihn wird gesagt, dass er die Frauen vergewaltigt, die Män- ner verstümmelt und den aus seiner Sicht „gezähmten“, den „good Indians“ Whiskey verkauft und ihr Gold raubt, die Jungen versklavt und die Alten zerstört. Harte Worte. „Run to the Hills“ wird ein kommerzieller Erfolg, von Fans als Meilenstein des Metal-Genres gefeiert. Auch wenn kritische Stim- men Bedenken äußern, dass das Thema zu komplex sei für einen einfachen Rocksong. Bis heute wird das Lied auf Konzerten lautstark mitgesungen, was man durchaus als Beweis dafür werten kann, dass Iron Maiden damit historisches Bewusstsein in den Mainstream des Metal getragen hat. In das Video zum Song sind Szenen aus dem Stummfilm „The Uncovered Wagon“ von 1923 geschnitten, eine Parodie auf den Western „The Covered Wagon“ („Die Karawane“) aus demselben Jahr. Thomas Röbke

WAS WÄRE, WENN?

Ohne Marshallplan wären in vielen Staaten kommunistische Bewegungen stärker geworden, etwa in Frankreich oder Italien. Die Sowjetunion hätte leichter Satellitenstaaten etablieren können, der Eiserne Vorhang wäre womöglich weiter nach Westen gerückt. Deutschland und Europa wären länger wirtschaftlich schwach geblieben – mit weitreichenden Folgen für den Wohlstand bis heute.

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P.M. HISTORY – OKTOBER 2025

SCHWERENÖTER Friedrich Wilhelm II. hatte in seinem Leben zahlreiche Liebschaften und Mätressen

AUSGEGRABEN

M anchmal liegt Geschichte buchstäblich unter unse- ren Füßen – verborgen hinter dicken Platten, Schich- ten aus Erde und dem Staub der Jahrhunderte. Etwa in der Schlosskirche Buch bei Berlin, wo Forscher am 8. Juli 2025 bei Restaurierungsarbeiten auf einen außergewöhnli- chen Fund stießen: In einer gemauerten Gruft entdeckten sie einen erstaunlich gut erhaltenen Holzsarg, reich verziert mit vergoldeten Leisten und klassizistischen Medaillons. Nach Einschätzung des Landesdenkmalamtes Berlin handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die verschollene Grab- stätte von Julie von Voß – einer Frau, die am Hof von Preußen einen bemerkenswerten Platz einnahm. Julie Amalie Elisabeth von Voß wurde am 24. Juli 1766 in Buch bei Berlin geboren, als Tochter einer alten Adelsfami- lie. Mit 17 Jahren trat sie in den Dienst am Hof, zunächst als Hofdame bei Königin Elisabeth Christine, später bei Königin Friederike Luise von Hessen-Darmstadt. Letztere hatte nach sieben Geburten ihre ehelichen Pflichten für erfüllt erklärt. In diesen Jahren traf Julie auf den 22 Jahre älteren Kö- nig Friedrich Wilhelm II., der für seine Liebschaften bekannt war. Doch anders als andere Frauen lehnte Julie es ab, nur Die wieder- entdeckte Königsgattin

eine weitere Mätresse zu werden. Sie wollte seine Ehefrau sein und war bereit, dafür auf die Krone und Rechtsansprü- che zu verzichten. Der König willigte ein und drängte die Kö- nigin zur Zustimmung. Sie gab nach, und so heirateten Julie und Friedrich Wilhelm am 7. April 1787 in einer sogenannten morganatischen Ehe. Noch im selben Jahr ernannte er sie zur Gräfin von Ingenheim. Doch das Glück währte nicht lange. Zwar brachte Julie im März 1789 ihren Sohn Gustav Adolf zur Welt. Kurz darauf erkrankte sie aber an der „weißen Krankheit“, der Lungentuberkulose. Sie verlief damals fast immer tödlich und so auch für Julie: Sie starb am 25. März im Alter von 22 Jahren. Eine Woche später wurde sie in der Schlosskirche Buch beigesetzt, in einer Einzelgruft ohne Grabstein und Inschrift. Der Ort geriet in Vergessenheit.

KURIOS XXL

KUSCHELIG Eine Gemeinschafts- angelegenheit war der Toilettengang oftmals im Römischen Reich. Dicht an dicht saßen Männer, Frauen und Kin- der auf den Latrinen und gingen ihren Geschäften nach – manchmal auch wörtlich: Die latrinae waren wichtige Orte des sozialen Austauschs. Klopa- pier gab es keins, stattdessen wurde ein Schwamm verwendet, der an einem Stock befestigt war und nach Benutzung in einer Mischung aus Wasser und Essig gesäubert wurde.

P.M. HISTORY – OKTOBER 2025 10

Arena

SELBSTBEWUSST Die junge Adlige for- derte die Eheschließung vom König – ein unge- wöhnlicher Schritt

Fossiler Schmuck

N ormalerweise wird Schönheit mit Jugend gleich- gesetzt, nicht mit Alter. Das hielt die Bewoh- ner der römischen Provinz Hispania jedoch nicht davon ab, ein Hunderte Millionen Jahre altes Fossil zu einem Schmuckstück zu verarbeiten. Archäo- logen fanden einen vier Zentimeter langen versteiner- ten Trilobiten des Genus colpocoryphe am Fundplatz A Cibdá de Armea bei Ourense in Galicien. Laut einer neuen Studie aus dem Jahr 2025 wurde der Trilobit zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert n. Chr. gezielt be- arbeitet, um als Amulett zu dienen – der erste Fund dieser Art in der römischen Welt. Weltweit sind nur zehn wei- tere Beispiele bekannt. Fossilien galten damals als magisch. Die Römer hielten Dinosaurierknochen für die Überreste von mythischen Wesen oder Helden. Versteinerte Insekten wie dieser Tri- lobit sollten vor bösen Mächten schützen. Abriebspuren zeigen: Er hing vermutlich an einem Lederband oder war in Silber gefasst. Vielleicht schmückte er einen Hausaltar. Durch wie viele Hände der Trilobit ging, ist nicht be- kannt. Seine rötliche Färbung und die Versteinerung in Eisenoxid lassen die Forscher darauf schließen, dass das Fossil aus dem Süden der Iberischen Halbinsel stammt, 430 Kilometer von seinem Fundort entfernt. Für den letzten Besitzer verlor das steinerne Schutzwesen jedoch seinen Zauber – und landete im Müll. Merlin Wassermann

„Der Fund ist außergewöhnlich: Die Grablege liefert uns wertvolle Einblicke in eine herausragende Frauenbestat- tung am Ende des 18. Jahrhunderts“, sagt Sebastian Heber vom Landesdenkmalamt. „Die Beschaffenheit und Lage des Grabes passen zu allen bekannten Quellen.“ Absolute Gewissheit über die Identität des Leichnams könnte nur eine DNA-Analyse bringen, wofür der Sarg ge- öffnet werden müsste. Um die Totenruhe zu wahren und den fragilen Zustand – der Sarg weist bereits Schäden auf – nicht zu gefährden, soll darauf jedoch vezichtet werden. Vielmehr möchte man die Gruft nun dokumentieren und sichern. Künftig soll sie zugänglich bleiben, als Erinnerung an eine Frau, deren Existenz fast im Dunkel der Geschichte verschwunden wäre. Merlin Wassermann

TOILETTENSYSTEME DER GESCHICHTE

BOURDALOUS Ihrer Zeit voraus wa- ren die feinen Damen im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts. Angeb- lich, um den langen Predigten des Pfarrers Louis Bourdaloue ungestört lauschen zu können, nahmen einige von ihnen Saucenschüsseln mit in die Kirche – als Nachttopf für unterwegs. 1PS[FMMBONBOVGBLUVSFOHSJŢFOEBTBVG und entwickelten die Bourdalous – deren Name jedoch vermutlich eher auf die Worte für „Bach“ und „verrich- ten“ zurückgeht – die zu kostbaren -VYVTBSUJLFMOBWBODJFSUFO d a t -

SCHWEIN GEHABT Im alten China war die Toilette oft auch Schweine- stall: Bei den Zhu Juan Mao Keng befand sich der Abort direkt über dem Gehege, die Schweine fraßen den Kot der Menschen, bevor sie selbst auf deren Teller landeten – Krankheitsrisiken inklusive. Teilweise hielten sich diese Toilettenarten bis ins 21. Jahrhundert. UNGEAHNTE GEFAHR Die Abort- erker waren zentrale Bestandteile von Festungen im Mittelalter. Von der "V›FONBVFSţFMFOEJF&YLSFNFOUFJO

den Burggraben. In der Dompropstei des Marienstiftes in Erfurt befand sich die Kloake jedoch unter dem Gebäu- de. Das wurde etwa 60 Anwesenden, die den königlichen Hoftag 1184 be- suchten, zum Verhängnis. Beim „Er- furter Latrinensturz“ brach der Boden von zwei Stockwerken. Die Adligen landeten in der Toilettengrube, die meisten von ihnen ertranken.

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Arena

Er ist auffällig gestreift, leicht, flexibel, stapelbar, die StVO führt den Leitkegel als Zeichen 610. In der Schweiz ist er auch als Verkehrstöggel bekannt, in Ös- terreich als Huterl oder Haberkornhüt- chen, nach dem dortigen Produzenten, der Firma Haberkorn. FRÜHER BE- NUTZTE MAN FÜR ABSPERRUN- GEN ROT-WEISS GESTRICHENE FÄSSER und beschwerte sie mit einem Stein. 1952 starb ein Autofahrer, als er gegen ein Absperrfass fuhr und vom Be- Der Leitkegel

Weinberghüter Seit dem Mittelalter war dieser meist von jungen, kräftigen Männern aus- geübte Beruf ein unverzichtbarer Bestandteil des Weinanbaus in vielen Regionen Europas. Seine Hauptaufgabe war es, die Reben vor Diebstahl, Wildschäden und Vogelfraß zu schützen. Oft lebte er während der Erntezeit direkt in kleinen Hütten oder Unterständen in den Weinbergen. Besonders bekannt ist der Saltner in Südtirol, der neben seiner Schutzfunktion auch als Repräsentant regionaler Traditionen auftrat und mit auffälliger Tracht, Ketten aus Eberzähnen und einem Federhut weithin sichtbar war. Im 19. Jahrhundert wandelte sich der Weinberghüter vom praktischen Wäch- ter zum folkloristischen Symbol. Moderne Überwachungstechniken und Landwirtschaftsmaschinen machten seine Rolle schließlich überflüssig.

schwerungsstein getroffen wurde, der beim Aufprall durch die Windschutz- scheibe geschleudert wurde. Um solche Unfälle zu verhindern, erfand Ewald Kongsbak in seiner Heimatstadt noch im selben Jahr das rot-weiß gestreifte „Lübecker Hütchen“ aus Gummi. In den USA war der Leitkegel da schon fast ein altes Hütchen; dort hat- te Charles D. Scanlon 1941 recht ähn- liche safety makers zum Patent ange- meldet. Bis 30. September 1988 schrieb die StVO drei weiße und zwei rote Ringe vor, beginnend mit einer weißen Spitze, seit 1. Oktober 1988 ist die Farb- folge umgekehrt.

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Zu Unrecht vergessen

FRAGEN AN DIE GESCHICHTE

„Wieso geht uns etwas durch die Lappen?“

Mediziner Max Rubner (1854–1932) aus München

Wer Diät macht oder im Fitness- studio Muskeln zulegen will, dem ist die Kalorie wohl bekannt: die Einheit für den Energiegehalt von Nahrungsmitteln. Anfang des 19. Jahrhunderts erfunden, wurde sie in Deutschland durch den Phy- siologen und Ernährungsforscher Max Rubner bekannt gemacht. Auf Basis seiner Forschung zum NFOTDIMJDIFO4UPŢXFDITFMTDIVG er Kostwerttabellen, die angaben, wie viel Personen mit bestimmten Berufen pro Tag an Kalorien und Eiweiß zu sich nehmen sollten. Während des Ersten Weltkriegs beriet Rubner die Reichsregierung, um dem Hunger in der Bevölke- rung entgegenzuwirken. Auf sein Zutun kam es zum „Schweine- mord“. Rubner befürchtete, dass zu viele Kalorien an die Aufzucht von Schweinen in Form von Kar- UPŢFMOWFSMPSFOHJOHFO"MTPXVS - den 1915 fünf Millionen Schweine geschlachtet. Dennoch starben viele Deutsche den Hungertod.

V on einer grünen Ampel bis zur großen Liebe: Wo Menschen etwas anstreben, kann auch etwas schiefgehen. Nicht anders ver- hält es sich bei der Lappjagd im 18. Jahrhundert. Bei die- ser Form der Treibjagd wird das bejagte Gebiet mit Leinen, den sogenannten Archen, um- spannt. Über sie hängen die Jäger Blendzeug, etwa Schwa- nenfedern, Seile oder eben große Stoff- oder Lederlappen.

Sie dienen dazu, dem begehrten Wild den Weg zu versperren, ent- weder als physische Barriere oder weil es vor ihnen zurückschreckt. So wird es in eine bestimmte Richtung gelenkt und zu einer leichten Beute für die Jäger. Allerdings kann es passieren, dass die Tiere in eine solche Panik verfallen, dass sie die Barriere durchbrechen – sie gehen also wortwörtlich „durch die Lappen“. Noch heute werden ähnliche Methoden verwendet, um den scheuen Wolf zu jagen, etwa in Russland oder im Nationalpark Bayerischer Wald – in Letzterem jedoch nur, um die Tiere zu betäuben und wieder in ihr angestammtes Gebiet zu transportieren.

FRAGEN SIE UNS, was Sie schon immer über ein geschicht- liches Thema oder Phänomen wissen wollten! Schicken Sie ein- fach eine Mail an: pm-history-redaktion@verlagshaus.de

SYMBOLISCH: DAS EISERNE KREUZ

Es wurde erstmals 1813 anlässlich der Befrei- ungskriege gegen Napoleon gestiftet. Ursprüng- lich war das Eiserne Kreuz eine preußische, dann deutsche Auszeichnung in drei Klassen für militärische Verdienste. Es ist angelehnt an das Balkenkreuz des Deutschen Ordens und die Tradition der Kreuzzüge. Das Material spielt auf das Eiserne Zeitalter der antiken Mythologie an. Seit 1956 ist es Hoheits- und Ehrenzeichen der Bundeswehr. Es wird auch in der Popkultur und von Rechtsextremen verwendet.

Arena

PLAKATIV

Buchmesse A m Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit bildeten sich in Europa erste Handelsplät- ze, an denen Bücher und Handschriften zwischen Kaufleuten und Gelehrten den Besitzer wechselten – so entstanden die Keimzellen der späteren Buchmessen. Mit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert erlangte der Buchhandel eine völlig neue Bedeutung. Frankfurt wurde hierfür im 16. Jahrhundert zum europäischen Zentrum – inklusi- ve Wissensaustausch und öffentlichem Diskurs. Ab dem 18. Jahrhundert übernahm Leipzig zunehmend diese Rolle, entwickelte sich zu einem florierenden Buch- und Verlagsstandort und zog Autoren, Drucker und Händler aus ganz Europa an. Die Buchmesse dort wurde zum Schaufenster geistiger Strömungen. Heute sind Buchmessen viel mehr als reine Handels- plätze. Sie sind Kulturereignis, Diskussionsforum und Bühne für gesellschaftliche Debatten. Menschen strömen in die Hallen, um neue Bücher zu entdecken und sich persönlich auszutauschen. Neben den großen Messen in Frankfurt und Leipzig zeigen weltweit viele Ableger, dass das Buch lebendig bleibt – auch im digitalen Zeitalter.

JAHRESTAG Ein Plakat zur 50. Frankfurter Buchmesse 1998 – ein Jubiläum, das an den Neuanfang des Buchhandels in der Nachkriegszeit und die Wiederbelebung der internationalen Messe erinnert

WEISE EULE Mit Leseaufrufen wie den „Book Weeks“ sollen die Menschen der 1950er-Jahre JOdžEFO64"VOEBO - deren Ländern dazu animiert werden, mehr zu lesen. Das soll den Charakter bilden und Freude bereiten, aber auch die zukünftige Arbeiterschaft auf eine zunehmend informationsorien- tierte Wirtschaft vorbereiten

PROMETHEUS Der griechische Gott, der den Menschen das

Wissen um das Feuer brachte, ziert dieses Plakat der Leipziger Buchmesse von 1914 – das Jahr, in dem Europa in Krieg, $IBPTVOE6OWFS - nunft versinken sollte. Nach Kriegs- ausbruch wurden die Pavillons der neuen

Feinde wie Russ- land und England geschlossen

P.M. HISTORY – OKTOBER 2025 14

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Agatha Christie

Die Königin des VERBRECHENS Nicht nur ihre

Kriminalromane mit illustren Ermittlern wie Hercule Poirot und Miss Marple sind spannende Geschichten. Auch das Leben von Agatha Christie selbst ist vollgepackt mit auf- regenden Abenteuern, aber auch Tragödien

Von Yvonne Küster

A m 3. Dezember 1926 ver- schwindet Agatha Christie plötzlich. Tagelang suchen über 1000 Polizisten und 15 000 Freiwillige nach ihr, durchkämmen auch mit Spürhunden das Hinterland von Surrey, und man fürchtet schon das Schlimmste. Schließ- lich hat man ihren Wagen, einen grünen Morris Cowley, am Rand einer Kalkgru- be nahe dem See Silent Pool gefunden. Die Lichter sind noch eingeschaltet, Christies Mantel und ihr Führerschein liegen drin, aber von der Frau keine Spur. Ist ein Unfall passiert? War der Kuss, den sie ihrer Tochter gegeben hat, ein normales Abschiedsbussi oder ein suizidales Lebewohl?

16 P.M. HISTORY – OKTOBER 2025

AM ARBEITSPLATZ Agatha Christie an der Schreibmaschine in ihrer Sommerresidenz Greenway House in Devonshire (Foto, 1946)

P.M. HISTORY – OKTOBER 2025 17

ABGETAUCHT? „Frau Christie verkleidet“, titelt eine Tageszeitung im Dezember 1926 anlässlich ihres Verschwindens. Oben ihr verlassener Wagen bei Newlands Corner/Surrey

tig seine Koffer gepackt und sie verlas- sen hatte. Bereits im August hatte er ihr mitgeteilt, dass er seit 18 Monaten eine Affäre habe und die Scheidung wolle, um mit der anderen Frau zu leben. Für Agatha Christie bricht da eine Welt zusammen. Sie muss noch den Tod der Mutter verarbeiten, ihr Verleger macht Druck, dass sie weitere Romane liefern soll, und dann ist auch noch ihre Ehe ein Scherbenhaufen. Anders als in ihren Büchern kann die 36-jährige Autorin die Handlungsfäden in ihrem Leben momentan nicht mehr steuern. Dass die Geliebte ihres Mannes, Nancy Neele, zehn Jahre jünger ist, setzt der Betrogenen zusätzlich zu. War es Rache? Am 14. Dezember gibt es endlich ein Lebenszeichen. Ein Mitglied der Band eines Kurhotels in der Bäderstadt Har- rogate hat die Verschollene auf einem Vermisstenplakat erkannt und meldet

Das Polizeibüro Berkshire verteilt nun Steckbriefe: „Vermisst wird Mrs. Agatha Mary Clarissa Christie aus Styles, Sunningdale, Ehefrau von Colo- nel A. Christie. Alter: 35, Größe 5 ft 7 (1,70 Meter), Haarfarbe rot (kurz), na- türliche Zähne, graue Augen, Haut- farbe hell, gut gebaut. Sie trägt einen grauen Rock mit Seidenstrümpfen, einen grünen Pullover, dunkelgraue Weste, einen kleinen grünen Hut aus Velours.“ Die Zeitung Daily News setzt eine Belohnung von 100 Pfund für den entscheidenden Hinweis aus, und der berühmte Schriftsteller Sir Arthur Co- nan Doyle befragt sogar ein Medium, was mit Christie passiert sei. Die Bediensteten der Schriftstellerin berichten der Polizei, dass sie „sehr de- primiert gewesen“ sei, als sie das Land- haus in Sunningdale verließ und in den Wagen stieg. Kein Wunder, schließlich hatte es an jenem Dezembertag einen Ehestreit zwischen ihr und ihrem Gat- ten Archibald gegeben, weil er endgül-

dies. Elf Tage hat Agatha Christie dort gewohnt und sich die Zeit unter ande- rem mit Feiern und Charleston-Tanzen vertrieben. Eingecheckt hat sie unter „Neele“, dem Namen der Geliebten ih- res Mannes. Sie wird ihr Verschwinden damit erklären, dass der Ehebetrug einen Schock und Gedächtnisverlust bei ihr ausgelöst habe. Agatha Christies Popu- larität steigt durch dieses mysteriöse Verhalten, und ihre Bücher verkaufen sich danach noch besser als zuvor. Man- che tuscheln schon, dass sie mit ihrem Verschwinden nur diese Aufmerksam- keit erreichen wollte. Andere vermuten, dass sie sich an ihrem untreuen Gatten rächen wollte, denn dieser stand durch ihr Verschollensein kurz unter Mord- verdacht. Es klingt wie ein Plot aus ih- ren Kriminalromanen. Und es passt zu ihrem ereignis- reichen Leben, das von schweren Tra- gödien, enormen Erfolgsphasen und aufregenden Abenteuern geprägt ist.

Das Leben von Agatha Christie 1890

1914 Heirat mit dem Offizier Archie Christie (Scheidung 1928)

1920 Erster Kriminalro- man „Das fehlende Glied in der Kette“ mit Hercule Poirot

1901 Agatha Millers Vater stirbt

1919 Geburt der Tochter Rosalind

1926 Weltreise von Archie und Agatha Christie

Am 15. September wird Agatha Mary Clarissa Miller geboren

18 P.M. HISTORY – OKTOBER 2025

Agatha Christie

insbesondere den „Hund von Basker- ville“. Da sie in Mathe sehr gut ist, hat sie eine Vorliebe für Logik und Sherlock Holmes’ geniale Gedankengänge. Und sie fängt schon als Kind an, sich Ge- schichten auszudenken. Als sie elf Jahre alt ist, stirbt ihr Va- ter an einem Herzinfarkt. Die Mutter muss nun sehen, wie sie als Alleinerzie- hende die Kinder gut durchbringt. Spä- ter wird auch Agatha diese Erfahrung machen müssen. 1906 schickt die Mut- ter die 16-Jährige nach Paris, um Musik und Gesang zu studieren, damit das Mädchen eine Karriere als Opernsänge- rin verfolgen könnte, so die Hoffnung. Nach vier Jahren gesteht sich Agatha allerdings ein, dass sie zu wenig Ta- lent und zu viel Lampenfieber hat, um

professionelle Sängerin zu werden. Sie beendet die Ausbildung und kehrt nach England zurück. Im Oktober 1912 nimmt ihr Leben eine entscheidende Wendung, als sie den Ball von Lord und Lady Clifford besucht. Die 22-jährige Agatha Miller fährt ohne ihren Verlobten Reginald Lucy, der keine Partys mag, zu der Feier und trifft dort auf Archibald Christie, einen 23-jährigen „großen, stattlichen Mann mit kurzem, blond gelocktem Haar“. Mit diesem Offizier der Königli- chen Feldartillerie versteht sie sich auf Anhieb blendend und tanzt mit ihm. Auch er ist von ihr sehr angetan, klebt später in sein Tagebuch das Ballpro- gramm und einen Liebesvers. Kurze Zeit darauf macht er ihr einen Antrag –

Ihre Kindheit ist harmonisch und wohlbehütet. Agatha Mary Clarissa wird am 15. September 1890 als drit- tes Kind von Frederick Alvah Miller, ei- nem US-amerikanischen Börsenmakler, und der Britin Clarissa Miller geboren. Die beiden Geschwister Louis Montant („Monty“) und Margaret („Madge“) sind schon zehn und elf Jahre älter, die kleine Agatha ist das Nesthäkchen. Sie wächst in gut situierten Verhältnissen in Torquay, Devon, der englischen Ri- viera im Südwesten des Landes, auf. Die Mutter möchte nicht, dass sie zur Schule geht, unterrichtet das Kind stattdessen zu Hause. Das ist für Mäd- chen damals nicht ungewöhnlich. Cla- rissa liest der Tochter oft Geschichten vor, auch Kriminalromane, Agatha liebt

KINDERBILD Der Maler Douglas Connah ver- ewigt die kleine Agatha als Vierjährige in Öl (1894)

DER ERSTE Ehemann Oberst Archibald Christie

FAMILIENIDYLL? Das Foto von 1926 zeigt die Autorin mit ihrer Tochter Rosalind. Ihre Ehe hat da schon Risse

1928 Reise zur Ausgra- bungsstätte im Irak

1926 Tod der Mutter. Mysteriöses Ver- schwinden für elf Tage nach Krise

1930 Erster „Miss Mar- ple“-Roman. Heirat mit dem Archäolo- gen Max Mallowan

1971 Ernennung zur

1952 Premiere des Theaterstücks „Die Mausefalle“

1976 Am 12. Januar stirbt Agatha Christie im Alter von 85 Jahren

„Dame Comman- der of the Order oft the British Empire“

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Agatha Christie

hut. Eine zufällig anwesende Passantin wird Trauzeugin. Beide nehmen die un- gewöhnliche Trauung mit Humor. Zwei Tage später muss Archie wie- der an die Front, seine Frau meldet sich in Torquay freiwillig als Kranken- schwester und pflegt die verletzten Sol- daten. Als eine Stelle in der Kranken- hausapotheke frei wird, fängt sie dort an und lernt viel über Medikamente, Gifte wie Arsen, Strychnin, Cyanid, Digitalis und ihre Wirkung auf den Körper. Dieses Wissen wird ihr schrift- stellerisches Werk enorm prägen und Vergiften in ihren Krimis die häufigste Mordmethode werden. Gift steckt bei den literarischen Verbrechen in Mar- melade, Tee, Milch, Sandwiches und Kuchen. Der Tod lauert in den harmlo- sesten Speisen. Durch andere Varianten wie Erstechen, Erschießen oder Erwür- gen kommen die Opfer in ihren Werken deutlich seltener ums Leben. Weltberühmter Belgier 1916 beginnt sie, ihren ersten Kriminal- roman zu schreiben, tippt ihn auf einer Remington Portable No. 2. Viele der Ver- wundeten auf ihrer Krankenhausstation kommen aus Belgien, einige sind vor der deutschen Besatzung geflohen. Diese Begegnungen inspirieren sie zur Krea- tion ihrer berühmtesten Detektivfigur, des belgischen pensionierten Kommis- sars Hercule Poirot. Ein kleiner, älterer Herr mit eleganter Kleidung und mar- kant geschwungenem Schnurrbart. Er ermittelt erstmals in dem Roman „Das fehlende Glied in der Kette“, und bereits hier sind alle typischen Elemen- te von Christies Krimis vorhanden: Es gibt einen Mord, einen besonderen Ort, verschiedene Verdächtige, ihre verdeck- ten Motive, einen scharfsinnigen Er- mittler, der alles treffsicher analysiert, und eine unerwartete Wendung (plot twist) , als dieser schließlich den Täter überführt. Der Leser erhält in ihren Romanen dieselben Hinweise und In- dizien wie die ermittelnde Hauptfigur, doch er kommt nicht auf den Mörder, auch, weil sie falsche Fährten (red her- rings) legt, und ist dann von der Auf- lösung des Falls überrascht. Christie

und Agatha „will schrecklich gerne“ seine Frau werden. Aber durch seinen Militärdienst und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verzögert sich die Hochzeit. Am 24. De- zember 1914 ist es so weit: Als Archie für die Weihnachtstage plötzlich Hei- maturlaub bekommt und nach Hause fährt, heiraten sie spontan. Agatha hat nicht einmal Zeit, sich „die Hände oder das Gesicht zu waschen“ und ein weißes Kleid zu kaufen, sondern ehelicht ihn in einfacher Jacke, Rock, violettem Samt-

bringt das klassische „Whodunit“ zur Perfektion, dieses Katz-und-Maus-Spiel wird zu ihrem Erfolgsrezept, das die Leser lieben. Ihre zweite ikonische Hauptfigur, Miss Jane Marple, die 1930 in „Mord im Pfarrhaus“ ihr Debüt hat, ist so ziem- lich das Gegenteil von Poirot. Die ältere Dame aus dem fiktiven Dorf St. Mary Mead in England ist eine Amateurdetek- tivin ohne kriminalistische Ausbildung. Während Poirot die Verbrechen mithil- fe seiner „kleinen grauen Zellen“, Logik und Deduktion aufklärt, löst Marple die Fälle vor allem durch Beobachtung, All- tagswissen und ihren Scharfsinn. Her- cule ist der eitle, intellektuelle Snob, der oft in gehobenen kosmopolitischen Um- gebungen wie etwa dem Orient-Express ermittelt, Jane die humorvoll-kluge, un- terschätzte Seniorin, die Kriminelle in ländlichen Gegenden überführt. Das Krimigenre ist schon damals sehr beliebt, man spricht gar von einem „Golden Age of Detective Fiction“. Sher- lock Holmes ist seit seinem erstmaligen Erscheinen 1887 zur kulturellen Ikone aufgestiegen und Arthur Conan Doyles

ERSTER WELTKRIEG Agatha Christie als Krankenschwester beim Britischen Roten Kreuz um 1914

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WELTREISE Die Christies gehen 1922 auf Tour, um für die Britische Kolonialaus- stellung 1924 in London zu werben. Links: der Kanada-Pavillon in Wembley Park

Auflage verkauft etwa 2000 Exempla- re, für die bis dato unbekannte Autorin ein solider Start. Die Verbreitung über Leihbibliotheken und Magazine trägt dazu bei, dass die Schriftstellerin zu- nehmend bekannter wird. Fremde Kulturen Auch die Kritiken fallen überwiegend positiv aus; so lobt die renommierte Literaturzeitschrift Times Literary Sup- plement die Logik des raffinierten Plots und die Fähigkeit der Autorin, den Le- ser mit ihrer spannenden Handlung zu fesseln. Ihr Stil ist geprägt durch eine klare Sprache, die auch ein Jugendli- cher versteht, aber gleichzeitig intellek- tuell herausfordert, weil die Lösung des Rätsels nicht einfach ist. Christie liefert zudem eine psychologische Betrach- tung der Figuren und hat einen feinen Sinn für Ironie. Im selben Jahr bekommt Archie das Angebot, für mehrere Monate durch das englische Kolonialreich zu reisen und bei Landwirten, Händlern und Viehzüchtern für deren Teilnahme an

einer der bestbezahlten Autoren seiner Zeit. Auch die Kriminalgeschichten von Doyles Schwager Ernest William Hor- nung, dem Schöpfer des Meisterdiebs A. J. Raffles („Gentleman Einbrecher“), G. K. Chestertons „Father Brown“-Ge- schichten, ab 1910 veröffentlicht, und die Krimis von Edgar Wallace, der mit seinem Debütroman „Die vier Gerech- ten“ 1905 populär wurde, erfreuen sich einer großen Leserschaft. Kriminalromane sind auch damals schon keine reine Männerdomäne. So ist die US-amerikanische Schriftstellerin Mary Roberts Rinehart, die 1908 mit ihrem Roman „Die Wendeltreppe“ be- kannt wurde, 1916 auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs. Doch als Agatha Christie ihr Manuskript an sechs englische Ver- lage schickt, bekommt sie nur Absagen. Also besinnt sie sich zunächst auf ihr Privatleben; am 5. August 1919 kommt ihre Tochter Rosalind zur Welt. Sie bleibt ihr einziges Kind. Im Oktober 1920 erscheint „Das fehlende Glied in der Kette“ dann in den USA, im Januar 1921 beim Londo- ner Verlag The Bodley Head. Die erste

der British Empire Exhibition in London 1924 zu werben. Zusammen mit seiner Frau bricht er 1922 zu dieser Weltreise auf; sie führt die beiden unter anderem nach Südafrika, Australien, auf die Fid- schi-Inseln und nach Kanada. Während ihrer Aufenthalte zeigt Agatha viel In- teresse für die anderen Kulturen. Das Paar macht auch einen Abstecher nach New York und reist dann zurück nach England. Die Erlebnisse während dieser Weltreise werden Agatha Christie ein Leben lang inspirieren. Nach ihrer Rückkehr kann sie sich vom Erfolg ihrer schriftstellerischen Arbeit einen lang gehegten Wunsch er- füllen: Sie kauft sich ein eigenes Auto. 1926 ist ihr Horrorjahr: Erst stirbt im April die Mutter, dann offenbart ihr Archie, dass er sich nicht nur aus Inte- resse am Sport so oft im Sunningdale Golfclub aufhalte, sondern dort auch eine andere Frau kennengelernt habe. Agatha konnte diesem Sport nie etwas abgewinnen, und Archie interessierte sich nicht sonderlich für Literatur. Das konnte nicht lange gutgehen, das Schei- tern schmerzt aber dennoch sehr.

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DER ZWEITE Ehemann Max Mallowan ist Archäologe und eine Quelle der Inspiration für Christies Orientgeschichten

IN SYRIEN Die Autorin besucht eine Grabung in Chagar Basar in EFOFS+BISFO4JFVOUFSTU¸U[UJISFO.BOOBVDIţOBO[JFMM

ger Mann, sehr still, aber sehr einfühl- sam“, zeigt ihr nun die Ausgrabungs- stätten und macht Exkursionen mit ihr. Zunächst ist es ihr unangenehm, dass dieser 25-jährige Max Mallowan sozusagen den Touristen-Guide für die 14 Jahre ältere Frau, „die nichts von Ar- chäologie verstand“, geben muss. Doch bald wird klar, dass er das gerne macht, sehr gerne sogar. Denn er empfindet Agatha Christie „vom ersten Moment an als äußerst liebenswürdig“ – die beiden verstehen sich prächtig. Zu zweit im Orient Als sie bei einer Wüstenexpedition mit einem Wagen im Sand stecken bleiben, mehrere Stunden in der Hitze aus- harren müssen, verliert Agatha nicht die Nerven, beschwert sich nicht, son- dern sucht sich stattdessen ein schat- tiges Plätzchen und ruht sich aus. Eine coole Frau. In diesem Moment springt bei Max endgültig der Funke über, wird er später erzählen, und er hält kurz da- rauf um ihre Hand an. Ihr macht allerdings der Altersun- terschied – er ist 26 und sie 40 – so sehr

zu schaffen, dass sie zuerst zögert und nach der Heirat am 11. September 1930 in manchen Dokumenten ein falsches Alter angibt und sich neun Jahre jünger macht. Das ist aber auch schon der ein- zige Störfaktor. Agatha Christie blüht nach der Hochzeit regelrecht auf und beginnt sogar, Liebesromane zu schrei- ben – allerdings unter dem Pseudonym Mary Westmacott; schließlich möchte sie nicht ihren Ruf als angesehene Kri- minalschriftstellerin verwässern. Sie begleitet Max nun regelmäßig auf seinen archäologischen Expeditio- nen in den Irak und nach Syrien. Vier bis sechs Monate pro Jahr verbringen die beiden im Orient. Dabei sammelt Agatha auch reichlich Inspirationen und Informationen für weitere Krimi- nalromane. Und ist engagiert bei den Ausgrabungen dabei, macht Fotos und Filmaufnahmen davon und reinigt Fundstücke schon mal mit ihrer Ge- sichtscreme und Wattebäuschen. „Kein Mensch kann jemals verste- hen, wie viel wir einander bedeuten“, schreibt Max seiner Frau liebevoll zum sechsten Hochzeitstag. Und sie schwärmt: „Ein Archäologe ist der bes-

Nach dem Nervenzusammenbruch und ihrer Flucht vor der Realität er- holt sie sich jedoch relativ schnell von den Schicksalsschlägen. Sie ist nun al- lein für sich und ihre Tochter verant- wortlich, aber überzeugt, dass sie das hinbekommen wird. 1928 erscheint ihr nächster Krimi, „Der blaue Express“, und als sie auf einer Party hört, dass Mesopotamien sehr interessant sein solle, steigt sie kurz darauf als frisch Ge- schiedene in der Victoria Station in den Orient-Express (auf die Tochter passt zu Hause die Tante auf), fährt 3300 Kilo- meter nach Istanbul und dann weiter mit dem Taurus-Express nach Bagdad. Ihr Ziel ist der irakische Ort Ur, wo der bekannte Archäologe Leonard Woolley mit seinem Team die Ausgra- bungen der frühdynastischen Königs- häuser durchführt. Eine Frau, die allein reist, zumal in den Orient, ist Ende der 1920er-Jahre ein Bruch mit den Kon- ventionen. Aber das schert Christie überhaupt nicht. Sie findet die archäolo- gischen Arbeiten so interessant, dass sie 1930 Woolley und seine Frau Katherine erneut im Nahen Osten besucht. Deren Assistent, „ein schlanker, dunkler jun-

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Agatha Christie

mane unter Pseudonym. Ihre Werke werden in über 100 Sprachen übersetzt und mehr als zwei Milliarden Mal ver- kauft. Christie ist die Begründerin des modernen britischen Kriminalromans und die meistverkaufte Krimiautorin aller Zeiten. 1971 wird sie von Queen Elizabeth zur „Dame Commander of the Order of the British Empire“ ernannt und damit in den Adelsstand erhoben. 1975 lässt sie Hercule Poirot, den Detektiv, der sie mehr als 50 Jahre ihres Lebens begleitet hat und ihre Hauptein- nahmequelle ist, in dem Roman „Der Vorhang“ sterben. Er ist die einzige fik- tive Figur, die einen Nachruf in einer seriösen Zeitung – am 6. August in der New York Times – bekommt. Ein paar Monate später, am 12. Ja- nuar 1976, stirbt Agatha Christie mit 85 Jahren an einem Schlaganfall. Der Vorhang fällt, aber die „Queen of Cri- me“ bleibt unsterblich in ihren legen- dären Meisterwerken.

te Ehemann, den eine Frau haben kann; je älter sie wird, umso mehr interes- siert er sich für sie.“ In den 1930er-Jahren ist sie enorm produktiv, schreibt drei bis vier Bücher pro Jahr, darunter die Poirot-Krimis „Die Morde des Herrn ABC“, „Mord im Orient-Express“ und „Tod auf dem Nil“. Die beiden letzten werden zu Bestsel- lern. Auch ihr meistverkauftes Werk, „Und dann gab’s keines mehr“, erscheint in dieser Zeit. Die Geschichte von zehn Personen, die unter einem Vorwand auf eine abgelegene Insel gelockt und nach und nach gemäß einem Kinder- reim ermordet werden, mit ihrer sehr überraschenden Auflösung wird zum sensationellen Erfolg mit weltweit über 100 Millionen verkauften Exemplaren. In den folgenden drei Jahrzehnten legt Agatha Christie zahlreiche weite- re Meisterwerke hin, unter anderem „Das Böse unter der Sonne“ (1941), „Das krumme Haus“ (1949), „Der Wachsblu- menstrauß“ (1953) sowie „Das fahle Pferd“ (1961). Miss Marple geht eben- falls in Serie; der zweite Band, „Die Tote in der Bibliothek“, wird im Jahr 1942 veröffentlicht, elf weitere folgen, darunter „Ein Mord wird angekündigt“

(1950), ihr erfolgreichster Marple-Ro- man, „16 Uhr 50 ab Paddington“ (1957) und „Mord im Spiegel (1962). Ruhmbeschleuniger TV Agatha Christie hat auch eine große Leidenschaft fürs Theater und ist an der Inszenierung ihrer Stücke aktiv betei- ligt. Sie ist bei Castings dabei, besucht Proben und bearbeitet Dialoge. Am 25. November 1952 hat „Die Mausefal- le“ in London Premiere und wird heute noch täglich im St. Martin’s Theatre im Londoner Westend gespielt – es ist das am längsten ununterbrochen aufge- führte Theaterstück der Welt. Mit dem Aufkommen des Fernse- hens in den 1950er-Jahren werden ihre Werke zunehmend verfilmt und unter anderem Poirot durch Peter Ustinov und Miss Marple durch Margaret Ruther- ford legendär verkörpert. 1957 kommt die Verfilmung des Theaterstück „Zeu- gin der Anklage“ mit Marlene Dietrich und Charles Laughton in die US-Kinos. Insgesamt schreibt Agatha Chris- tie im Laufe ihres Lebens 66 Kriminal- romane, zahlreiche Kurzgeschichten, 20 Theaterstücke und sechs Liebesro-

Yvonne Küster lebt in Hamburg, hat Geschichte studiert und arbeitet als Wissen- schaftsjournalistin.

ZEUGIN DER ANKLAGE Marlene Dietrich und Charles Laughton JOEFS7FSţMNVOHWPO$ISJTUJFTCFS¸INUFN5IFBUFSTU¸DL 64"

TÖDLICHE ZUGFAHRT Der geniale Detektiv Hercule Poirot (Al- bert Finney, M.) befragt im Orient- Express die Passagiere (1974)

IM SAVILLE THEATRE Zur Premiere des Films „Mord im 0SJFOU&YQSFTTŏUSJŢU"HBUIB$ISJTUJF2VFFO&MJ[BCFUI

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Meisterwerk

„Das Becken von San Marco am Himmelfahrtstag“

Canaletto, 1733/34

E s ist Himmelfahrtstag, der 23. Mai 1734, und der Bucintoro, das prächtig geschmückte Staatsschiff der Republik Venedig, ist an seinem Liegeplatz vor dem Dogenpalast vertäut. Gerade ist die Galeere von ihrer festlichen Fahrt an den Lido zurückgekehrt, jener Landzunge, die Venedig von der offenen Adria trennt. Jedes Jahr an Himmelfahrt wirft der Doge, das auf Lebenszeit gewählte Oberhaupt der Republik, von dem Prunkschiff aus einen goldenen Ring ins Wasser – und vermählt sich und seine Stadt symbolisch mit dem Meer. Diese Zeremonie wird immer wieder in Gemälden fest- gehalten. Doch keiner versteht es, die Pracht des Tages so einzufangen wie Giovanni Antonio Canal, genannt „Canaletto“. Der Venezianer malt zwar nie den Zug der Schiffe über die Lagune, dafür aber etliche Ansichten der Szenerie um den zentralen Markusplatz. Hier ragt am linken Bildrand der „Campanile“, der frei stehende Glockenturm der Markus-Basilika, ma- jestätisch in den Himmel. In der Mitte erkennt man die zwei Säulen auf dem Markusplatz, die eine Statue des

heiligen Theodorus und das Symbol der Republik, den geflügelten Markuslöwen, tragen. Und dann ist da der Dogenpalast selbst, erbaut im Stile der venezianischen Gotik, dessen prachtvolle Fassade den Glanz und Ruhm Venedigs ausstrahlen soll. Allerdings ist die politische Stärke der europäischen Großmacht 1734 bereits im Niedergang. Einige Stütz- punkte im östlichen Mittelmeer hat die Adelsrepublik mittlerweile verloren. Dafür wird Venedig nun immer mehr zu einer Touristenattraktion für wohlhabende Reisende. Vor allem britische Adlige urlauben in der Metropole auf dem Wasser, nehmen anschließend Gemälde mit Szenen des Ortes als Souvenir mit nach Hause. Canaletto liefert ihnen diese Andenken. Etliche „Veduten“ – Stadtansichten – fertigt er während seiner Lebenszeit an, prägt damit das Bild Venedigs in ganz Europa. Und während viele der von ihm dargestellten Bauwerke heute immer noch stehen, existiert ein Detail nicht mehr: 1797 besetzen Napoleons Soldaten die Wasserstadt und zerstören den Bucintoro. (kms)

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