Fluchthilfe
hältnisse steht – und die sie, wie späte- re Biografen schreiben werden, zu ei- ner „schwarzen Jeanne d’Arc“ machen wird, zu einem „Moses of her people“. Und es ist keine friedliche Religio- sität. Lesen die weißen Herren aus der Bibel vor allem die Pflicht der Sklaven zur Gehorsamkeit, betet Minty um Vergeltung. Und Befreiung. Und betet nicht nur, sondern handelt. Wird fähig, zu kämpfen. Wird die Leitfigur eines Fluchtsystems, das als „underground railroad“ bekannt werden wird. Die imaginäre „Untergrund-Bahn“ ist ein Netz aus verborgenen Wegen durch dichte Wälder, entlang entlegener Was- serläufe und zu den heimlichen Adres- sen von auch weißen Gegnern des Skla- vensystems, darunter den tiefreligiösen Anhängern der Quäker-Gemeinde. Araminta Ross hat 1844 den freien Schwarzen John Tubman geheiratet und ihren Vornamen in Harriet geän- dert. Sklavin bleibt sie trotzdem, als Holzfällerin und hinter Ochsengespan- nen schuftet sie, schleppt Getreidesäcke und Fässer, ist stark geworden. Und an einem Septembertag 1849 wagt sie die Flucht. Auslöser ist eine angekündigte Auktion, bei der womöglich auch sie einmal mehr verkauft werden soll. D er erste Versuch, gemeinsam mit zwei Brüdern nach Norden zu gelangen, scheitert. Doch schon Anfang Oktober stiehlt sich Harriet Tubman erneut davon, diesmal allein. Sie marschiert nachts, findet die Adres- se einer Helferin, wird weitervermittelt und schafft es schließlich über die Gren- ze nach Pennsylvania, jene 1787 fest gelegte „Mason-Dixon-Linie“ zwischen sklavenhaltenden und „freien“ Staaten. In Philadelphia, etwa 220 Kilometer Luftlinie von ihrem Kindheitsland ent- fernt, findet Tubman Arbeit als Köchin. Doch nur um Selbstbefreiung geht es ihr nicht. Sie will Familie, Freunde, möglichst viele Versklavte nach Norden holen – und so wird sie in den folgen- den Jahren noch mehr als ein Dutzend Mal den gefährlichen Weg zurück nach Maryland antreten. Meist nutzt Tubman dafür den Win- ter, wenn die Nächte länger sind. Und
an den Kopf. „Bruder, du gehst jetzt weiter, oder du stirbst“, sagt sie ihm im Wissen darum, was eingefangenen Sklaven droht. M it einer ihrer letzten Geheim- missionen bringt Tubman schließlich, 1857, auch ihre Eltern in Sicherheit. Sie führt sie bis nach Kanada, denn in den an die Süd- staaten angrenzenden Bundesstaaten gilt seit 1850 der „Fugitive Slave Act“, der sie dazu verpflichtet, entkommene Sklaven bei Entdeckung an ihre Her- kunftsstaaten auszuliefern. Tubmans Befreiungsaktionen sind um diese Zeit bereits bekannt geworden. Sie hat wei- ße Freunde und Bewunderer von Penn- sylvania bis nach New York, hat erste öffentliche Auftritte vor politischen Zirkeln, die für die Abschaffung der Sklaverei eintreten; erste Zeitungen schreiben über die kleine, körperlich behinderte, analphabetische Frau. Und ein Mann gewinnt ihr Vertrauen, John Brown, der den offenen Krieg gegen die Sklavenhalter-Gesellschaften im Süden plant. Brown scheitert, wird im Dezember 1859 gehängt. Doch für Tubman ist er ein Märtyrer. „Er hat durch seinen Tod mehr bewirkt als hundert andere durch ihr Leben“, sagt sie. Es ist ihr Einstieg in
meist an einem Samstag bricht sie mit Fluchtgruppen auf, weil es dann zwei Tage dauert, bis Fahndungsaufrufe in einer Zeitung erscheinen können. Treffpunkt ist oft ein Friedhof, als Ver- stecke am Tag dienen Abzugsgräben von Entwässerungsanlagen, nicht mehr benutzte Scheunen, Gruben für Winter- gemüse. Am Ende werden es mehr als 70 Frauen, Männer und Kinder sein, die Tubman so in die Freiheit führt. Nach ihr, als „kastanienbraun, gut aussehend, etwa 27 Jahre alt und etwa ein Meter groß“ beschrieben, hat die Sklavenhalter-Familie Brodess in der „Delaware Gazette“ schon 1849 gefahn- det. 100 Dollar sind auf ihre Ergreifung außerhalb Marylands ausgesetzt. 50 Dollar, sollte sie in der Nähe gefasst werden. Doch dass Tubman zu einer so regelmäßig agierenden Fluchthelferin wird, traut ihr niemand zu. Es wird ein Mann hinter der Bewegung vermutet, während Tubman, die sich später als „Schaffnerin“ der Underground Rail- road bezeichnet, stolz darauf ist, „nie- mals einen meiner Passagiere verloren“ zu haben. Dabei ist sie mitunter rabiat. Schreiende Babys lässt sie mit Opium betäuben, wenn Gefahr besteht, dass Sklavenjäger in der Nähe sein könn- ten. Einem Umkehrwilligen, der die ganze Gruppe gefährden könnte, hält sie einen Revolver
BEFREIT Ex-Leibeigene feiern 1863 die Aufhe- bung der Sklaverei
P.M. HISTORY – 19
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