Schweiz
E s ist schon beinahe Mitter- nacht, als auch das Licht des Mondes nicht mehr zum Kämpfen reicht und sich gnä- dige Schwärze legt über die Lebenden wie die Toten. So ineinander verkeilt stehen die beiden Heere vor Mailand, dass die meisten Soldaten sich einfach an Ort und Stelle fallen lassen, um auszuru- hen. Sieben Stunden lang haben die Schweizer und die Franzosen einander ohne Pause erschlagen, erschossen und erstochen, Tausende sind tot.
des wagen sie es nicht, Feuer zu ma- chen. Es ist Donnerstag, der 13. Septem- ber 1515. Der erste Tag der Schlacht von Marignano. 30000 Eidgenossen sind ins Feld gezogen – niemals zuvor (oder danach) hat die Welt eine grö- ßere Schweizer Armee gesehen. Die Franzosen haben sogar 45000 Männer aufgeboten, angeführt von ihrem König Franz I., 21 Jahre jung, der seiner Mut- ter bald schreiben wird, „dass es nicht möglich ist, mit größerer Kampfeslust und entschlossener anzupacken, als die Schweizer es taten“. Wohl wahr: Für ihren Todesmut und ihren Kampfgeist sind die Eidgenossen europaweit so be- rühmt wie gefürchtet. Ihre Truppen gel- ten als unbesiegbar. D ie Schlacht von Marignano ist der Höhepunkt einer der er- staunlichsten Epochen der frü- hen Schweizer Geschichte. Einer Zeit des Ehrgeizes, vielleicht des Größen- wahns, in der es so aussieht, als könn- te die kleine, aus zunächst zwölf, dann 13 verbündeten Stadt- und Länderorten bestehende Eidgenossenschaft tatsäch- lich aufsteigen zu einer europäischen Großmacht. Und dies vor allem dank der über- wältigenden Stärke ihrer Soldaten, die mit einer neuen Angriffstaktik die über- kommene Schlachtordnung revolutio- niert haben und damit seit 200 Jahren so gut wie ungeschlagen sind. Dabei kämpfen diese Truppen meist gar nicht für die verbündeten Orte selbst, son- dern töten und sterben für Geld – als Söldner in fremden Heeren. Quellen, die von Schweizer Solda- ten in ausländischen Diensten berich- ten, reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück. Mal sind es Einzelne, die sich von durchziehenden Armeewerbern rekrutieren lassen, mal schließen die „Orte“ oder gar die gesamte Eidgenos- senschaft Verträge über Truppenkon- tingente mit anderen Mächten ab. Die meisten und besten Söldner re- krutieren sich aus der Innerschweiz. Einer Gebirgslandschaft, in der es „schwarze Wälder voller scharfer Stei- ne“ gibt und Täler „von großer Rauheit,
Die Nachtluft ist erfüllt von dem Stöhnen der verwundeten Kämpfer und dem Schnauben ihrer Pferde, vom Ge- stank aus Eingeweiden, von Pech und Pulverdampf. Wundärzte knien bei den Verstümmelten, Feldprediger spenden den Sterbenden Trost, Hörner tönen, um die Versprengten zu sammeln. Aufseiten der Eidgenossen liegen Züricher neben Luzernern, Basler ne- ben Appenzellern, Unterwaldner ne- ben Bündnern. Alle haben Hunger und Durst, jeder friert in dieser kalten Nacht. Doch wegen der Nähe des Fein-
BESCHOSSEN Ein Landsknecht lädt seine Büchse. Den Kampf bei Marignano können die Fran- zosen erst mithilfe ihrer Artillerie für sich entscheiden
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