kleinen Ort zehn Kilometer südöstlich der Stadt auf: in Marignano. Am 13. September halten die An- führer der Schweizer Kriegsrat im Mailänder Schloss. Plötzlich dringt von der Straße der Lärm klirrender Waffen und schnaubender Pferde zu ihnen. Im nächsten Moment stürmt ein Bote in den Saal und berichtet, dass die Schlacht mit den Franzosen bereits be- gonnen habe. Bald darauf stürmen die eidgenössischen Truppen aus der Stadt gegen das Lager der Franzosen. Im dichten Haufen, mit erhobenen Hellebarden, stürmen die Schweizer los. Nicht das Kugelgewitter von 6000 französischen Büchsen achtend, nicht die Gefallenen vor ihnen, überwinden sie die Gräben und Hecken der Acker- landschaft und verbeißen sich mit dem Feind. Die Franzosen scheinen geschla- gen. Noch in der Nacht schicken die Schweizer Boten in die Heimat, um den Sieg zu melden. Allerdings zu früh. Denn die Fran- zosen fassen im Schutze der Dunkelheit frischen Mut, errichten Befestigungen, graben sich ein, vor allem aber stellen sie ihre zuvor zu hoch platzierten Ge- schütze besser auf. Als die Schweizer nach Sonnenauf- gang erneut angreifen, rennen sie in ihr Verderben. Die Kanonen zerfetzen die anstürmenden Krieger. Irgendwann im Lauf des Morgens trifft auch noch die Kavallerie der Republik Venedig auf dem Schlachtfeld ein und haut töd- liche Breschen in die Formationen der Schweizer. E s ist vorbei. Ein Offizier ordnet den Rückzug an. Die Schweizer retten sich nach Mailand, und Franz I. lässt sie ziehen. Vielleicht aus Respekt, eher aber aus Kalkül. Schätzungsweise 15000 Soldaten sind in Marignano gestorben, wohl zwei Drittel davon Schweizer. Noch nie hat die Eidgenossenschaft einen solchen Blutzoll zahlen müssen. In Zürich, Lu- zern und weiteren Städten kommt es zu Unruhen. Die Menschen haben genug von den Soldunternehmern, die sich am Krieg bereichern und dafür ihre Mitbür- ger in den Tod schicken. Am 29. Novem-
BEWAFFNET Ein Landsknecht stützt sich auf seine Hellebarde. Vor allem die Eidgenos- sen nutzen diese Waffe – halb Dolch, halb Beil – im Nahkampf
ber 1516 schließen alle Orte einen „Ewi- gen Frieden“ mit Frankreich. Im Gegenzug gibt sich Franz I. maß- voll. Nicht nur zahlt er den Eidgenossen eine ungeheure Menge Geld dafür, dass sie alle Ansprüche auf Mailand aufge- ben, sie dürfen sogar einige Gebiete be- halten, den späteren Kanton Tessin. Die Expansion der Eidgenossen- schaft jedoch ist beendet. Es ist wohl auch eine Einsicht in die eigenen Gren- zen: Um eine Großmacht zu sein, müsste sie sich eine zentrale Regierung geben, einen Fürsten, der das Land beherrscht. Doch ihre Freiheit ist den mittlerweile 13 Orten wichtiger.
Und mit den Jahren wird aus einer unausgesprochenen Haltung ein eher- ner Grundsatz. Der Verzicht auf gewalt- same Expansion verwandelt sich in ein Bekenntnis zu einer umfassenden Neu- tralität. Das einst kriegerischste Volk Europas gibt das Kriegführen auf: Nie wieder wird die Schweiz einem Offen- sivbündnis beitreten oder ein anderes Land angreifen.
Johannes Strempel schrieb zuletzt in P.M. HISTORY 1/2024 über den legendären bibli- schen König Salomo.
P.M. HISTORY – 37
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