Schweiz
Helfer in der Not
HENRY DUNANT – MENSCHENRECHTLER
1863 gründet der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant das spätere „Rote Kreuz“ – um das Leid von Soldaten zu lindern Von Jasmin Lörchner
W as der Handelsreisende Hen- ry Dunant im Juni 1859 in den Ortschaften nahe dem norditalienischen Dorf Solferino sieht, lässt ihn zeitlebens nicht mehr los. Mit fürchterlichen Verletzungen liegen Sol- daten dicht gedrängt in Kirchen, Ka- sernen oder unter freiem Himmel. Sie sterben an Wundbrand, weil sie nicht rechtzeitig versorgt werden. Ärzte füh- ren ohne Narkose Amputationen durch. Soldaten betteln auf dem Operations- tisch um den Tod. Es mangelt an Pflege- personal, Verbandszeug, Wasser, Nah- rung. Tausende Verwundete müssen versorgt werden, nachdem Frankreich und das mit ihm verbündete Sardinien- Piemont in einer Entscheidungsschlacht gegen Österreich um die Besitzungen der Habsburger in Norditalien gerungen haben. Überwältigt vom Leid der Verwun- deten, vergisst Henry Dunant die Ge- schäftsinteressen, die ihn eigentlich in die Gegend geführt haben. Der 31-Jäh- rige kauft medizinisches Material, wechselt eigenhändig Verbände, spen- det Trost. Und in ihm wächst eine Idee: Er will eine Hilfsgesellschaft für die Pflege von Kriegsverletzten gründen. Das Schicksal verwundeter Solda- ten wird bis dahin kaum öffentlich be- achtet. Dabei gibt es in der Oberschicht jener Jahre durchaus Bestrebungen, den Schwächeren zu helfen. Mit weltli- chen Gaben und christlichem Großmut wollen reiche Wohltäter die Armut der Massen mildern – allerdings ohne die Klassenunterschiede aufzuheben. Auch im calvinistisch geprägten Genf findet die Idee, im Namen des Glaubens Gutes zu tun, Sympathisan-
Mit Gleichgesinnten gründet er 1863 das Internationale Komitee für Verwundetenhilfe: das spätere Inter- nationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das weltweit Millionen Men- schen in Kriegen, Krisen und Katastro- phen das Leben retten wird. Unermüdlich wirbt er bei Europas Mächtigen für einen Kongress zum Thema in der neutralen Schweiz. Der Bundesrat in Bern unterstützt Dunants Engagement und lädt offiziell zur diplo- matischen Konferenz nach Genf ein. Am 22. August 1864 verabschie- den Vertreter von zwölf Staaten die Genfer Konvention: Erstmals wird die Versorgung von Kriegsverwundeten verbindlich geregelt und Verletzten, Helfern und Spitälern volle Neutrali- tät zugesichert. Zuvor war bereits eine einheitliche Kennzeichnung der Helfer gefunden worden: ein rotes Kreuz auf weißem Grund (eine einfache Farbum- kehr der Schweizer Flagge). Dunants privates Unternehmen in- des scheitert. Nach erfolglosen Investi- tionen in Algerien wird er 1868 wegen Betrugs verurteilt, sein Ruf ist ruiniert. Jahrzehntelang lebt Dunant verarmt und zurückgezogen, engagiert sich aber bis zu seinem Tod am 30. Oktober 1910 in humanitären Fragen. Heute sind die Genfer Konventio- nen, der ersten folgten noch drei wei- tere und drei Zusatzprotokolle, von 196 Ländern anerkannt. Der Mann, der maßgeblich dazu beigetragen hat, erfährt schließlich noch eine späte Eh- rung: Gemeinsam mit dem französi- schen Pazifisten Frédéric Passy erhält der 73-Jährige im Dezember 1901 den ersten Friedensnobelpreis.
ten. Das Bankenzentrum hat viele wohl- habende Bürger. Zwischen 1810 und 1875 entstehen dort rund 200 Hilfs- werke. Auch der 1828 in Genf geborene Dunant engagiert sich früh für Benach- teiligte. Für den gläubigen Christen ist es ein Akt der Nächstenliebe. Gleichzeitig betätigt er sich jedoch auch als Kolonialunternehmer: Mit ei- ner Aktiengesellschaft will er im fran- zösischen Algerien zu Wohlstand kom- men. Vermutlich um persönlich beim Kaiser von Frankreich für seine Ge- schäftsidee zu werben, reist er Napole- on III. im Juni 1859 auf dessen Feldzug gen Italien nach – und wird so Augen- zeuge des Leids der Soldaten. 1862 erscheint sein Buch „Eine Er- innerung an Solferino“. Ungeschönt be- schreibt er darin seine Beobachtungen aus den Behelfslazaretten und entwi- ckelt die Vision eines humanitären Völ- kerrechts. Es sieht Regelungen für die Kriegsführung und den Schutz von Ver- letzten vor. Dabei argumentiert Dunant aber nicht als Pazifist gegen den militä- rischen Kampf, denn der ist in weiten Teilen Europas allgegenwärtig. Er plä- diert für die Pflege der Kriegsopfer.
P.M. HISTORY – 45
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