P.M. History

D iese Luft in der Schweiz! „Hier schien selbst in der Luft etwas zu sein, das es in Deutschland nicht gab“, wird sich der in Würzburg geborene Schriftsteller Leonhard Frank später an die Jahre von 1915 bis 1918 in der Eidgenossenschaft erinnern. Er ist Pazifist, Sozialist, schreibt gegen den Krieg, flüchtet vor ihm. In der demokra- tischen Schweiz, so kommt es ihm vor, scheinen „die Menschen frei zu atmen“. Es ist ein Klima, das ungezählte In- tellektuelle ab 1914 aus der Kampfzone Europa in das kleine, friedvolle Land in seiner Mitte zieht: in das Land „Neu- tralien“, wie es der russisch-jüdische Schriftsteller Shemarye Gorelik nennt. Bis ins vierte Jahr des Ersten Welt- kriegs benötigt man für die Einreise weder Pass noch Visum. Die Schweiz bleibt offen für all jene, die sich, wie der deutsche Dadaist Hans Arp, „ange- ekelt von den Schlächtereien“ des Krie- ges fühlen. „Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Lei- beskräften“, schreibt Arp später über all die Dissidenten der Schrift und des Sprechtheaters und der Künste, all die Kubisten, Expressionisten, Futuristen, die sich unter anderem in der Züricher „Galerie Dada“ treffen. Sorglosigkeit bietet die Schweiz zwar nicht. Aber sie ist die Bühne für unbeschwerte Gedanken, an der sich die akademischen Kriegsflüchtlinge be- geistern, während sie zu Hause, etwa von der „Donau-Zeitung“, als „Drücke- berger“ im „kugelsicheren Schweizer Aufenthalt“ geschmäht werden. Nicht selten ist die Sicherheit mit Ar- mut verbunden. Die aus Berlin emigrier- te Vortragskünstlerin Emmy Hennings musste sich bereits in Deutschland eine Zeit lang mit Gelegenheitsprostitution durchschlagen. Der Philosoph Ernst Bloch, seit 1917 in der Eidgenossen- schaft, hat nach Beobachtung seiner Freunde „buchstäblich nichts zum Le- ben“, hätte nicht einmal zu essen, gäbe es nicht Gönner: „Schweizer aus altem Schrot und Korn“ für ihn, „prachtvolle Gestalten“, die mit ihrer vehementen Ablehnung der deutschen Kriegsherren

AUFSCHWUNG Komponist Richard Wagner findet findet als sächsischer Opposi- tioneller Zuflucht in der Schweiz – und dort zu neuer kreati- ver Kraft

ABSPRUNG Der Architekt Gottfried Semper ottfried Semper geht ins Exil nach Zürich – und wird dort 1855 zum Professor ernannt

RETTUNG Der französische Maler Gustave Courbet entgeht entgeht der Haft wegen umstürzleri- scher Umtriebe durch Flucht

BEFREIUNG In der Schweiz darf der Dadaist z darf der Dadaist Hugo Ball den Kunstbe- trieb ohne Zensur atta- ckieren

P.M. HISTORY – FEBRUAR 2024 58

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