P.M. History

Schweiz

Bildungsbürgerliche Touristen und Romantiker werden von Jean-Jacques Rousseaus „Nouvelle Héloïse“ an den Genfer See gelockt, andere von Fried- rich von Schillers „Wilhelm Tell“ in die Landschaft des Vierwaldstättersees. Schneider, Schuster, Schlosser, Zim- merleute kommen auf Arbeitssuche aus dem Norden in die Schweiz. Dort sind in mehreren Wellen zuvor schon Angehörige des französischen Kaiserhauses gelandet, Flüchtlinge der revolutionären Bewegungen in Italien, polnische Militärs und Adelige nach der Niederschlagung des Aufstands gegen die russische Herrschaft 1831. Dazu viele von deutschen Universitäten ver- bannte Professoren und Studenten. Sie haben an die Kantonsschulen von Chur und Aarau gefunden, an die Reform­ institute Johann Heinrich Pestalozzis, an die 1833 gegründete Universität von Zürich. An dieser besetzen Lehrbeauf- tragte aus Deutschland anfänglich fast sämtliche Stellen, und an der ein Jahr

„die gute alte schweizerische Tradition aus dem Blut von Wilhelm Tell“ verkör- perten. Solche prachtvollen Gestalten, gewissermaßen geborene Flücht- lingshelfer, und ein im Vergleich zum restlichen Europa freisinniger Staat begründen den fast schon mythischen Ruf der Schweizer Asyltradition. Eine Offenheit, die spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genom- men hat. Seit dem Jahr 1847, als die Schweiz den letzten bewaffneten Konflikt auf ih- rem Territorium hinter sich hat, ist sie eine Insel des Friedens in einem Meer der Unruhen, Aufstände, Revolutionen. Ein Land der Vielfalt, schon wegen der verschiedenen Sprachgemeinschaften auf seinem Territorium, ein Land der Meinungs- und Pressefreiheit. Und es hat – von den Großmächten seit 1815 garantiert – den Status der „immer- währenden Neutralität“. Es kann also keinen besseren Fluchtpunkt geben für alle, die in ihrer Heimat verfolgt wer- den. Und so kommen sie. Sie kommen nach den 1849 von Preußen niedergeschlagenen Aufstän-

den badischer Demokraten mit gleich zehntausend Mann über den Rhein. Sie kommen aus der Lombardei und Vene- tien, wo sie gegen die österreichischen Fremdherrscher gekämpft haben. Tausende, die man namenlos nennt, sind unter den Flüchtlingen. Und auch berühmte Männer wie der Architekt Gottfried Semper oder der Komponist Richard Wagner, beide am Versuch beteiligt, eine neue Verfassung im Kö- nigreich Sachsen durchzusetzen. We- gen drohender Verhaftung rettet sich auch Friedrich Engels, Mitverfasser des „Kommunistischen Manifests“, 1848 in die Eidgenossenschaft. S ie sind nicht die Ersten, denen jene „Freiheit über alles gut schmeckt“, die „die herrliche Schweizerluft“ genießen, in der ein Richard Wagner „mutige Lust zu arbeiten“ entwickelt, wie er schwärmerisch schreibt. Und sie werden nicht die Letzten sein. Der Zustrom wird von ganz unter- schiedlichen Bewegungen ausgelöst.

TREFFPUNKT Viele Exilanten sammeln sich in Zürich. Sie begegnen sich in Debattierklubs, Cafés oder bei Kunstdarbietungen

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