Vergessene Großreiche
LEPENSKI VIR Die archäologische Fundstätte am sogenannten Eisernen Tor an der Donau im Osten von Serbien. Erste Siedlungsspuren stammen von etwa džW$IS*ISF#M¸UFFSSFJDIUEJF0SUTDIBGUXPIM[XJTDIFOVOEW$IS
GRÄBERFELD VON WARNA Die Ne- kropole im Nordosten Bulgariens könnte ebenfalls Teil der Donauzivilisation sein
sein, in der sich die Menschen in Bezug auf Macht, Besitz und Lebensqualität wenig unterscheiden, sich nicht ge- genseitig ausbeuten oder umbringen, sondern stattdessen über Jahrhunder- te Kriege und Gewalt bannen können. Und es steckt noch mehr dahinter. Es ist der Versuch, diese Vergangenheit als Blaupause für die Zukunft zu nehmen, als Modell für ein neues, friedliches Zu- sammenleben gerade in den so konflikt- reichen Regionen Südosteuropas. Nur: Die etablierte Geschichtswis- senschaft ist und bleibt gegenüber den Alteuropa-Verfechtern unversöhnlich. Die Kritikerinnen und Kritiker Haar- manns und Gimbutas’ erkennen die Qualität des untersuchten Kulturraums durchaus an, werten die Auseinander- setzung damit als lohnend. Miteinander vernetzt – ja. In vielem gleich – ebenso ja. Aber deswegen schon eine Zivilisa- tion mit der Donau als einigendem Band? Eher nicht. Doch die Donauzivi- lisations-Verfechter sind gleichmütig. Haarmann sagt: „Es dauert sehr lange, oft Generationen, bis Umdenken ein- setzt und andere Modelle, andere Nar- rative akzeptiert werden.“
Häuser mit vier oder fünf Räumen, pro- fessionelle Töpfer, Weber, Kupfer- und Goldschmiede und andere Kunsthand- werker, die eine breite Palette hoch ent- wickelter Güter produzierten.“ Und Gimbutas ist die Erste, die aus den archäologischen Funden Rück- schlüsse auf die innere Verfasstheit der Donauzivilisation zieht. Sie sieht da- rin eine hoch organisierte Kultur, die sich so ziemlich in allem von gängigen Hochkulturen der Geschichte unter- scheidet, zumindest der europäischen: ohne staatliche Strukturen, friedfertig, egalitär, antipatriarchalisch. Und so „modern“ soll es schon zwischen 6500
und 3500 vor unserer Zeitrechnung zugegangen sein. Gimbutas kann das aus den archäo- logischen Funden herauslesen. Diese zeigen etwa, dass die Grundbedürfnisse des Wohnens und Lebens gleichmäßig verteilt sind. Dass Prestige- und Pracht- bauten fehlen. Stattdessen gehen die Ar- chäologen davon aus, dass es innerhalb der Gemeinschaft gemeinsam genutzte Ressourcen gibt. Aus der Grabkultur lassen sich weder eine Unterscheidung zwischen Arm und Reich noch die Do- minanz der Männer ableiten. Frauen nehmen innerhalb der Donauzivilisa- tion vor allem kultisch eine größere Rolle ein, ohne dass es sich deswegen schon um ein Matriarchat handelt. Umstritten aber bleibt, ob allein die vielfach ausgegrabenen Frauenstatuet- ten, bei einigen sind Brüste, Gesäß und Schenkel überdimensioniert, auf die- sen hohen Frauenrang schließen lassen können. Womöglich sind es auch nur Sinnbilder für Fruchtbarkeit. Viel „Interpretation“ Das ist das Problem: Geschichte allein aus der Archäologie ohne schriftliche Quellen zu rekonstruieren, hat seine Grenzen. Hier kann viel „hineininter- pretiert“ werden. Es ist der verständli- che Wunsch, womöglich auf eine bes- sere historische Epoche gestoßen zu
Hans Christof Wagner ist Historiker und Zeitungsredak- teur. Er bereitet geschicht- liche Themen fundiert und auch journalistisch auf.
MARIJA GIMBUTAS Die litauische Archäologin sieht in der Donauzivilisation eine hoch entwickelte Kultur
60 P.M. HISTORY – OKTOBER 2025
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