teils auch in ein ferneres Asyl weiterge- reist. Aber schon 1863 und im Folgejahr kommen neue Flüchtlinge aus Polen, etwa 2000 Mann, empfangen als ge- schlagene Helden eines Aufstands ge- gen die russische Besetzung. Zeitgleich beginnt eine weitere Migration aus dem Zarenreich: Es sind junge russische Frauen, die sich – zu- meist für das Studium der Medizin – an den Universitäten Zürich und Bern immatrikulieren, den neben Paris ein- zigen Universitäten, an denen Frauen überhaupt regulär studieren dürfen. Diesem unsittlichen Tun, wie der Zar zu Hause grollt, geben sich anfangs nur wenige Pionierinnen hin, aber bis 1914 werden ihnen Tausende folgen. Sie stammen zumeist aus adeligen Fa- milien, aber es sind auch Bauerntöch- ter darunter. Und Mädchen, die von sozialutopischen Schriften angesteckt sind, der Idee eines „neuen Menschen“ folgen, als Ärztinnen zurückkehren wollen, um dem verarmten russischen Volk zu dienen. „Kosakenpferdchen“ werden die jungen Frauen aus Russland von jenen Schweizern genannt, in denen sie ero- tische Fantasien auslösen. Denn eini- ge von ihnen scheinen freie Liebe zu propagieren, sie tragen kurze Röcke, Brillen und Kurzhaarschnitte, sie „quie- ken“, wie sich jemand über ihre Laut- stärke auf den Straßen echauffiert. Aber während etwa der Münchner Professor Theodor von Bischoff 1872 noch anhand von Vergleichen der Hirn- und Schädelanatomie die Unzuläng- lichkeit der Frau für ein Studium nach- zuweisen versucht, hat mit der 1843 geborenen Nadeschda Suslowa ein ers- tes „Kosakenpferdchen“ bereits seit fünf Jahren einen an der Universität Zürich erworbenen Doktortitel; sie ist die erste promovierte Ärztin überhaupt. U nterdessen ist die Schweiz mit ihrer einzigartigen, verfassungs- mäßig garantierten Versamm- lungs- und Redefreiheit zum Refugium einer ganz anderen Emanzipationsbe- wegung geworden: zum Fluchtort von Sozialrevolutionären aller Schattierun- gen. Anarchisten, Kommunisten, Sozia-
FLUCHTPUNKT Ab 1914 sammeln sich
Pazifisten aus ganz Europa in der Schweiz – wie der Schriftsteller Klabund
STARTPUNKT 1917 bricht Wladimir Iljitsch Lenin vom Schweizer Exil aus zur Revolution nach Russland auf
STANDPUNKT Wegen ihrer pazifistischen Gesinnung muss auch die Münchner Schriftstellerin Annette Kolb flüchten
P.M. HISTORY – FEBRUAR 2024 61
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