P.M. History

Schweiz

ihre Zustimmung zum Königsmord durchblicken lässt. Doch grundsätzlich gilt: Eine Zensur findet nicht statt. „Hier herrscht für jegliche politi- sche Angelegenheit völlige Freiheit“, schreibt Bakunin, inzwischen nach Locarno im Tessin umgezogen, 1869 an einen Freund. Außerdem sei alles er- staunlich preiswert und die Luft gesund. Und wie Bakunin aus der Schweiz nach Russland hineinzuwirken versucht, tun es auch die politischen Flüchtlinge an- derer Länder. V or allem in der Westschweiz sind es Hunderte Anhänger der ge- scheiterten Pariser Kommune, deren Aufstand gegen die französische Zentralregierung 1871 blutig nieder- geschlagen worden ist. Die geflohenen Kommunarden versuchen sich in Genf neu zu formieren, wo sie die Zeitung „Révolution sociale“ herausgeben und sich als französische Propaganda-Sek- tion für die Idee einer proletarischen Revolution verstehen, obwohl einzel- ne von ihnen etwa als Streikführer der Genfer Uhrenarbeiter auftreten. Oder, wie der in seiner Heimat von Haft be- drohte Maler Gustave Courbet, einen

te Publikation in Zürich. Von dort aus wird „Der Sozialdemokrat“ mit einer Auflage von bis zu 12000 Exemplaren ins Deutsche Reich geschmuggelt, wo die Sozialdemokraten weder Versamm- lungs- noch Presse- noch Organisati- onsfreiheit haben. Und so ist die Schweiz im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Auf- fang- und Sammelbecken linker Theo-

Begegnungsort für prominente Schwei- zer Radikale gründen. Für die Erinnerungskultur der Eid- genossenschaft, für ihr Eigenverständ- nis als humanitäre Instanz wird eine andere Fluchtbewegung allerdings wichtiger: Im Februar 1871 lässt die Schweiz 87000 Soldaten der von den Deutschen bedrängten französischen Ostarmee die Grenze übertreten und

Aus ganz Europa suchen linke Aktivisten Asyl in der Schweiz

retiker und Aktivisten aus ganz Europa geworden. Sie sind vernetzt in unzähli- gen Zirkeln von Genf über Zürich und Bern bis ins Tessin. Sie fechten Posi­ tionskämpfe aus und sind in Stellvertre- terkriege verwickelt, die sie auf heimat- lichem Boden nicht führen könnten. 1889 wird die „Fremdenpolitik“ der Schweiz aber auf eine schwere Probe gestellt: Anhänger einer russisch-pol- nischen Gruppe, deren Ziel die Besei-

verteilt sie nach ihrer Entwaffnung auf nahezu alle Kantone. Dennoch: Die Soldaten kehren nach Ende des Krieges bald wieder in ihr Heimatland zurück, die politischen Flüchtlinge aber kommen weiterhin. Ab 1878 sind es wiederum deutsche Sozial­ demokraten, etwa Eduard Bernstein, drangsaliert durch Bismarcks Sozia- listengesetze. Ab 1879 drucken die au- ßer Landes Getriebenen ihre wichtigs-

FORTSCHRITTLICH Die Stadt Bern ist um 1870 einer der wenigen Orte weltweit, an dem Frauen regulär studieren können

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