Schweiz
tigung des Zarenregimes ist, experi- mentieren in Zürich mit dem Bau von Bomben. Sie planen einen Anschlag auf Zar Alexander III. Der Kern der Gruppe besteht aus dem aus Russland geflohenen Isaak Dembo, seiner russischen Gefährtin Marija Gins- burg sowie dem Polen Aleksander Dbski. Dembo absolviert eine Schriftsetzerlehre bei der „Arbeiterstimme“, Ginsburg stu- diert an der medizinischen Fakultät, Dbski am Polytechnikum. Als die beiden Männer am 6. März auf dem Zürichberg einen Sprengkörper testen wollen, deto- niert er unvorhergesehen. Dbski über- lebt schwer verletzt, Dembo stirbt zwei Tage später. Zu seiner Bestattung er- scheint fast die gesamte polnische und russische Studentenschaft von Zürich. Doch obwohl das Land schließlich 13 Personen ausweist, bleibt die Asylde- batte differenziert. Der „St. Galler Stadt- anzeiger“ geißelt die Abschiebungen als „gewaltsame Knechtung des öffentlichen Rechts“. Die „Züricher Post“ schreibt: „Von den Höhen des Asylrechts, der frei- heitlichen Tradition und des nationalen Stolzes sinken wir tiefer und tiefer“. Der Erste Weltkrieg bringt dann die nächste Prüfung für die eidgenössische
Standfestigkeit. Der Bundesrat erkennt Deserteure aus den beteiligten Ländern zwar nicht als politische Flüchtlin- ge an, öffnet ihnen aber die Grenzen. Etwa 700 fliehen bis April 1916 in die Schweiz, im September 1917 halten sich laut offizieller Erfassung bereits mehr als 15 000 hier auf, gar fast 26 000 ein halbes Jahr nach Kriegsende; vor- nehmlich Italiener, Deutsche, Angehö- rige Österreich-Ungarns und Franzo- sen, aber auch Russen, Türken, Serben, Rumänen, Belgier, Bulgaren, Englän- der, Griechen und Amerikaner. Aus Deutschland sind es neben Frank, Arp, Bloch unter anderem Else Lasker-Schüler, Fritz von Unruh, René Schickele, Annette Kolb, Emmy Hen- nings und Hugo Ball. Sie werden nicht zuletzt von der Chance angezogen, im neuen Refugium freier als zu Hause publizieren zu können. Mit fast 420 Zei- tungen und mehr als 100 Fachzeitschrif- ten gilt die Schweiz in diesen Jahren als das, gemessen an der Bevölkerungs- zahl, zeitungsreichste Land der Welt,
und etwa die „Neue Zürcher Zeitung“ öffnet sich Kriegsgegnern wie Hermann Hesse, Alfred Henschke, der sich selbst Klabund nennt, und vielen anderen. Der österreichische Friedensnobel- preisträger von 1911, Alfred Hermann Fried, gibt nun in Zürich die zuvor in Berlin publizierte Zeitschrift „Die Frie- dens-Warte“ heraus. Hugo Ball und Emmy Hennings eröffnen 1916 eben- falls in Zürich das „Cabaret Voltaire“, die Geburtsstätte des Dada. W as die Flüchtlinge vielleicht spüren, vielleicht auch ver- drängen: Noch während des Krieges bauen sich auch in der Schweiz manche Fronten gegen die Fremden auf, der Weltenbrand markiert den Be- ginn einer allmählichen Wende in der Öffentlichkeit. Von 1850 bis 1914 ist in der Eidgenossenschaft der Auslän- deranteil an der Wohnbevölkerung von etwa drei auf 15 Prozent angestiegen, in den Großstädten machen die Auslän- der teils gar über 50 Prozent aus.
EXIL Auch in Luzern finden im 20. Jahrhundert viele politisch Verfolgte Sicherheit
P.M. HISTORY – FEBRUAR 2024 64
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