Nun aber, 1917, verschärft der Staat die Einreisebedingungen, fordert einen Pass und weitere Papiere aus dem Hei- matland, die gerade Flüchtlinge meist nicht vorweisen können. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer sind zwar weiterhin geduldet, doch droht ihnen die Internierung. Ein Bundesratsbe- schluss verpflichtet sie zudem zum Ar- beitsdienst. Immer mehr kippt die Stim- mung gegenüber vor dem Kriegseinsatz Geflüchteten, schließlich ist pauschal von „Asylmissbrauch“ die Rede. E rst scheint die zunehmende Feind- seligkeit gegenüber Ausländern und „unerwünschten“ Zuwande- rern noch ein Reflex auf die Notsitua- tion der Bevölkerung zu sein, die wäh- rend des Krieges unter der Teuerung von Lebensmitteln und Wohnungsnot leidet. Nach dem Krieg aber wird aus Tolerierung und Integration immer häufiger Abwehr. Und die richtet sich nicht nur verstärkt gegen Sozialisten. Die Einreise verweigert wird zudem jenen, die der Grenzsanitätsdienst als „hygienisch nicht akzeptable“ Personen einstuft; wohl als Reaktion auf die Spa- nische Grippe, der 24000 Schweizer zwischen Juni 1918 und Juli 1919 zum Opfer gefallen sind. Der Ruf nach einer „sozialen Ausle- se“ wird immer lauter. Und sie betrifft vor allem Juden aus Osteuropa, die nach neuer Schweizer Lesart als nicht „assimilierungsfähig“, als „Überfrem- dungsfaktor“ gelten. Ab 1919 werden ihnen keine Visa mehr erteilt – ein düsterer Vorbote auf jene Zeit, in der jüdischen Flüchtlingen erklärt werden wird, das Boot sei voll. Gnädiger geblieben sind die Behör- den indessen gegenüber dem größten Weltenveränderer, den sie je in ihrem Land beherbergt haben: Als Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, nach Jahren der Agitation und Reflexion in Bern und Zürich im April 1917 mit sei- ner Entourage den Zug zur russischen Revolution besteigt, da müssen die Ausreisenden beim Grenzübergang in Schaffhausen auf Geheiß des Zolls le- diglich einen Teil der mitgenommenen Schweizer Schokolade abtreten.
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