P.M. History

Schweiz

Den Frauen eine Stimme In der Politik der Schweiz spielen Frauen lange keine Rolle. Marthe S ie ist eine ungewöhnliche Revo- lutionärin. Entschlossen streitet Marthe Gosteli für das Frauen- MARTHE GOSTELI – FRAUENRECHTLERIN

Anstatt nun lautstark zu demons­ trieren, engagiert Gosteli sich weiter in der Frauenbildung; organisiert etwa Se- minare, in denen staatliche Strukturen erklärt werden, lädt befreundete Politi- ker und Moderatoren ein, um den Teil- nehmerinnen beizubringen, wie man vor Publikum überzeugend spricht. Als die Schweiz 1963 dem Europarat beitritt und die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei- heiten unterschreiben will, fordern die Aktivistinnen: „Keine Menschenrechts- konvention ohne Frauenrechte“. Doch es dauert noch fast zehn Jahre, bis Gosteli – seit 1967 Vizepräsidentin des Bundes der Schweizer Frauenorga- nisationen – mit ihren Mitstreiterinnen einen Großteil der Mächtigen, den Bundesrat und Journalisten, von ihrer Vision überzeugt hat. Am 7. Februar 1971 ruft die Regie- rung die Schweizer Männer ein weite- res Mal an die Wahlurne, und diesmal stimmt der Souverän für das Frauen- wahlrecht. Damit ist der Alpenstaat das vorletzte europäische Land, das eine solche Gesetzesänderung vornimmt (nur Liechtenstein folgt noch später). Aber erst 1990 setzt auch der letzte Schweizer Kanton die Gleichberechti- gung auf regionaler Ebene durch. Gosteli bleibt aktiv: Sie pflegt ein Archiv der Frauenbewegung, als Inves- tition in die Zukunft: „Ich führe viele Missstände darauf zurück, dass die Frauen keine Ahnung haben, was ihre Vorfahrinnen geleistet haben.“ Fünf Jahre später ist ihr persönli- cher Kampf zu Ende. Marthe Gosteli stirbt am 7. April 2017 in der Nähe von Bern – mit 99 Jahren.

Gosteli will das än- dern – und kämpft sehr lange, bis sie ihr Ziel erreicht Von Katrin Diederichs

wahlrecht in der Schweiz. Doch nicht mit Trillerpfeifen und Straßenkämp- fen will die Aktivistin ihre männlichen Mitbürger von der Gleichberechtigung überzeugen, sondern mithilfe des Ge- setzes – und ihrer vielleicht größten Waffe: stoischer Beharrlichkeit. Es ist eine frühe Begebenheit, die das Leben der 1917 nahe Bern gebore- nen Bauerntochter prägt. Als Heran- wachsende sieht sie einen Jungen in einem Kinderwagen, und ein Gedanke wird sie nicht mehr loslassen: „Wenn du 20 bist, darfst du abstimmen und wäh- len. Ich nicht.“ Denn die Schweiz ist ein Anachro- nismus. Anders als in den meisten Staa- ten Europas sind Frauen hier um 1940 noch immer ohne Wahlrecht. Und auch sonst sind sie benachteiligt: Um etwa Geld zu verwalten oder zu arbeiten, brauchen sie die Erlaubnis des Eheman- nes. Während Jungen sich in der Schule mit Mathematik beschäftigen, steht bei den Mädchen Häkeln auf dem Lehr- plan, schließlich sollen sie sich auf ihre Rolle als Hausfrau vorbereiten. Marthe Gosteli aber ergreift einen Beruf. Nach einer kaufmännischen Ausbildung während des Zweiten Welt- kriegs wechselt sie in die Presseabtei- lung der Schweizer Armee, dann in das Filmarchiv der US-Botschaft in Bern. Die Anstellung bei den Amerika- nern inspiriert die junge Frau mit den kurzen, gewellten Haaren. Denn in den USA schreitet die Gleichberechti- gung mit Macht voran, setzt sich etwa die Lohngleichheit beider Geschlechter

immer mehr durch. Gosteli beginnt sich zu engagieren, tritt 1949 dem Berner Frauenstimmrechtsverein bei, steigt drei Jahre später in den Vorstand auf. Längst fordert eine wachsende Zahl von Schweizerinnen die Gleichberech- tigung. Doch dem steht die Verfassung des Alpenstaats entgegen; und über Änderungen an der Konstitution befin- den in der Schweiz per Volksentscheid allein die wahlberechtigten Männer. Was die vom Frauenwahlrecht hal- ten, zeigen sie zwischen 1920 und 1956 bei 25 Abstimmungen in verschiedenen Kantonen: Wieder und wieder lehnen sie es ab, die Schweizerinnen wenigs- tens auf regionaler Ebene mitentschei- den zu lassen. Dennoch sieht die überzeugte De- mokratin Marthe Gosteli in einer recht- mäßigen nationalen Abstimmung der Männer weiterhin den einzigen Weg zur politischen Freiheit der Frauen. Und kann mit der Zeit mehr und mehr Ak- tivistinnen von ihrem Kurs überzeugen. Selbst als die Schweizer Männer 1959 bei einem ersten nationalen Referen­ dum mit überwältigender Mehrheit ge- gen das Frauenwahlrecht stimmen.

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