VÖLLEREI #JTJOT TQ UF+BISIVOEFSU sind Gelage unter Adligen Ausdruck von Wohlstand (Ölgemälde von +FBO'SBO£PJTEF 5SPZ
Mit seiner Auflistung von Speise- gaststätten, Cafés und Restaurants ist Roze de Chantoiseaus Buch ein früher Vorläufer des „Guide Michelin“, der den Unkundigen durch den Großstadt- dschungel leitet und ihn vor den dunklen Absteigen und schlechten Schänken mit zweifelhaftem Publikum bewahren soll. Schamlos nutzt der Autor die Publika- tion überdies für seine eigenen Zwecke. In gleich mehreren Unterkapiteln ver- weist er auf sein Restaurant, allerdings unter seinem Geburtsnamen: „Roze, rue Saint Honoré, Hotel d’Aligre, offeriert feine und wohlschmeckende Mahlzei- ten für 3 bis 6 Livre pro Person“, heißt es da, und in der Rubrik „Geheimnisse der Kunst und der Wissenschaft“ (!) beschreibt sich der Autor selbst als „Roze, Restaurateur des Königs, Grün- der des ersten maison de santé“ . Passend zum Zeitgeist Was aber unterscheidet diese neuen Lo- kalitäten neben dem angeblich gesun- den Essen von den Schankwirtschaf- ten, Gaststätten und table d’hôtes , die es zu Hunderten in Paris gibt? Die Restau- rants bieten nicht nur die schmackhafte Nouvelle Cuisine des 18. Jahrhunderts, sie sind – gewollt oder ungewollt – auch Ausdruck einer gesellschaftlichen Um- wälzung. Hier kann man wie ein Ad- liger alleine speisen, wird an einem Einzeltisch mit individuellem Geschirr bedient – jederzeit. Es geht nicht mehr um Unterhaltung und Geselligkeit, son- dern ausschließlich um das Mahl, sei- ne Qualität und den Service. Während in den meisten Gaststätten ein täglich wechselndes Gericht zu fixen Zeiten und Preisen serviert wird (meist aus einem einzelnen Topf), offeriert die innovative Menükarte der Restaurants eine neue Wahlfreiheit, kulinarisch und finanziell. Die Bouillon-Schänken werden zu Orten der gesellschaftlichen Distinkti- on und zum Transmissionsriemen einer revolutionären Entwicklung in einer Zeit, in der Auswahl ein Privileg ist. Im gediegenen Ambiente mit Spiegelwän- den und feiner Tischwäsche lässt sich zudem bei Kalbsbouillon und zuneh-
nomiegeschäft zurückzieht und 1806 völlig verarmt stirbt. Der Innovator fin- det jedoch rasch Nachahmer. 1782 er- öffnet das erste hochpreisige Pariser Restaurant unter dem Namen La Gran- de Taverne de Londres; es wird lange Zeit den Maßstab in Sachen Kulinarik und Prestige setzen. Restaurants stehen für den gehobenen Lebensstil: Am Ende des 18. Jahrhunderts konzentrieren sie sich in der Umgebung des Louvre und des Palais Royal, einer Gegend, die für ihre Luxusgeschäfte bekannt ist. Dann kommt die Revolution von 1789. Der König und der Adel sind dis- kreditiert, ihre alten Privilegien nun die Sache aller Citoyens – das gilt auch für das Essen. Die Spitzenköche von frü- her, die den Adel bekochten, müssen sich neue Betätigungsfelder suchen. Sie finden sie in den Restaurants, deren Anzahl nun rapide zunimmt. Als der
mend erweiterten kulinarischen Köst- lichkeiten trefflich philosophieren über Gott, die Welt und die Natur des Men- schen. Schon bald bieten cabinets parti- culiers dafür zusätzlich diskrete Rück- zugsräume, abgetrennte Bereiche für hitzige politische oder auch amouröse Eskapaden. Denn auch das ist neu: Im Restaurant treffen sich Mann und Frau ganz selbstverständlich und jenseits al- ler Konventionen. Lange vor der Revolution hält so der bürgerliche Individualismus Einzug in die gastronomische Welt. Das passt zum Zeitgeist: Dennis Diderot, berühm- ter Philosoph, Aufklärer und Enzyklo- pädist, lobt 1767 die Bouillon eines Re- staurants – und dessen wunderschöne restauratrice . Roze de Chantoiseaus Innovation überlebt ihren Schöpfer, der sich bereits nach wenigen Jahren aus dem Gastro-
69 P.M. HISTORY – OKTOBER 2025
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