Restaurant
Der „Guide Michelin“ Seit 1926 vergibt der „Guide Michelin“ bis zu drei Sterne für
kung und verbreiten in weniger stei- fer Form als die gehobenen Häuser die neue Esskultur. Auch in Übersee: Als der Journalist Junius Henri Browne die öffentlichen Essensmöglichkeiten der New Yorker Mitte des 19. Jahrhunderts unter die Lupe nimmt, ist er erstaunt von der Vielfalt, die sich ihm bietet. Für einen Fremden sehe es so aus, „als sei New York ununterbrochen mit Essen be- schäftigt. Gehen Sie, wohin Sie wollen, zwischen 8 Uhr morgens und 6 Uhr abends, und Sie werden daran erinnert, dass der Mensch ein kochendes Tier ist. Die Tische sind immer gedeckt; Messer und Gabeln klappern ständig gegen das Geschirr; die Gerüche der Küche steigen ständig auf.“ Man frage sich, so Browne abschließend, „wie selbst diese große Stadt so viele Speisehäuser unterhalten kann“. Effizient und billig Nicht nur in der Ostküsten-Metropole geht der Aufschwung der Gaststätten einher mit dem Aufschwung des bür- gerlichen Kapitalismus, denn wo Zeit Geld ist, da wird auch das Essen außer Haus zur zeiteffizienten Alternative gegenüber dem heimischen Herd. New York entwickelt sich auf parallelen
herausragende Küchenleis- tungen. Die Restauranttester – Inspektoren genannt – ge- hen ihrer Arbeit anonym nach und sind bei der französischen 3FJGFOţSNBGFTUBOHFTUFMMU4JF LMBTTJţ[JFSFOEJF) VTFSOBDI Komfortkriterien und kulinari- schen Meriten. Für den Komfort vergeben sie bis zu fünf Be- stecke, die dann für Luxus und Tradition stehen. Zusätzlich geben die berühmten Sterne Aufschluss über das auf dem Teller Gebotene: Drei bedeuten „Immer eine Reise wert!“, zwei Sterne lohnen einen Umweg, und ein Stern steht für eine sehr gute Küche in der jewei- ligen Besteckkategorie.
STERNKARTE Werbung für den „Guide Michelin“ in einer Zeitung vom September 1920
das Credo von Ritz. Auch andere Grand Hotels – das Savoy in London, das Ad- lon in Berlin oder das Palace Hotel in San Francisco – erkennen die Wichtig- keit der Küche im Wettbewerb um das zahlungskräftige Publikum. Französi- sche Chefköche, importierte Zutaten und Silberbesteck sollen jetzt für das erwünschte Flair sorgen. Die Speisekarten orientieren sich fast ausnahmslos an der cuisine fran- çaise – selbst in Gegenden, wo der nächste Cognac erst nach 10000 Kilo- metern zu haben ist. Mit der Zeit bildet sich so eine Internationale des guten Geschmacks heraus, denn die Hotelgäs- te – Diplomaten, Industrielle, Künstler – werden in ihrer Heimat zu Botschaftern des Gaumens. Die Speisekarte wird zur Eintrittskarte in eine neue Welt des ge- hobenen Stils: Nur wer mit der Etikette vertraut ist, wer die Weinkarte lesen oder den richtigen Digestif auswählen kann, handelt auf diesem gesellschaftli- chen Parkett souverän und verfügt über das richtige kulturelle Kapital. Zugleich werden die Restaurants mit der Zeit aber auch demokratischer. Sie versorgen die wachsende Bevölke- rung in den Großstädten mit Essen –
allein in Paris verdoppelt sich die Zahl der Einwohner zwischen 1801 und 1846. Die meisten von ihnen haben in den engen Behausungen keine Mög- lichkeit, Essen zuzubereiten – und erst recht kein Geld für eigene Köche. Bras- serien und Bistros sind daher beliebte Anlaufstellen für die körperliche Stär-
#&-* Im 19. Jahrhundert bieten Brasserien und Bistros Essen für die einfachen Leute in Paris an. In anderen Ländern entwickeln sich ähnliche Gaststätten (Foto 1920)
71 P.M. HISTORY – OKTOBER 2025
Made with FlippingBook flipbook maker