P.M. History

Restaurant

Bahnen nicht nur zur Gastrohauptstadt, sondern auch zum kommerziellen Zen- trum der USA. Das passende Gericht zum hekti- schen Zeitgeist taucht in den USA erst- mals im letzten Drittel des Jahrhun- derts auf: Das Steak Hamburg besteht aus zerkleinertem Rindfleisch, das wie- der zu einem Fleischstück zusammen- gesetzt wird. Es ist rasch zubereitet und wird vor allem im 20. Jahrhundert im Universum der „Systemgastronomie“ zum Höhenflug ansetzen. Erste Vorläufer der neuen, nicht mehr auf kulinarischen Stil und gesell- schaftliche Eleganz, sondern auf Effizi- enz ausgerichteten Gaststätten entste- hen am Anfang des neuen Jahrhunderts auch in Europa: Aschingers Bierquellen zum Beispiel sind seit 1892 in der deut- schen Hauptstadt Berlin in zweistelliger Zahl vorhanden und bilden zeitweilig das größte Gastronomieimperium in Europa. Sie versorgen die neue Schicht der Angestellten, der kleinen Beamten und jungen Sekretärinnen mit Bier- würsten, Brötchen und Kartoffelsalat zu günstigen Konditionen. „Beste Qualität bei billigstem Preis“ lautet das Motto des rasch expandieren- den Unternehmens, das alle Speisen im eigenen Zentralbetrieb herstellt: pro Woche zum Beispiel über eine Million

Brötchen. In den Aschinger-Häusern steht nicht mehr die Etikette im Vorder- grund, sondern – wie in der Gastrono- mie New Yorks – die effiziente Stärkung im Rahmen der kurz bemessenen Ar- beitspausen. Nur die Kronleuchter und Spiegel sind in den lärmenden, großen Aschinger-Filialen noch ein fernes Echo alter kulinarischer Herrlichkeit. Die Restaurants verändern sich im Umfeld des Ersten Weltkriegs nicht nur durch soziale Faktoren. Auch die Tech- nik spielt eine Rolle. So haben das per- manent erweiterte Verkehrsnetz und neue Möglichkeiten des Reisens wie das Auto Auswirkungen auf die Gas- tronomie. Reisende benötigen Orientie- rung, auf der Straße wie in Fragen der Verpflegung. Es gibt inzwischen über- all ein reiches Angebot an Restaurants und Gaststätten, aber woher sollen die Bahnfahrer und Automobilisten wis- sen, welche zu empfehlen sind – und welche nicht? Globalisierte Kulinarik Wie schon im 18. Jahrhundert im „Al- manach générale“ von Monsieur Roze de Chantoiseau will in Frankreich ein Gastronomieführer Abhilfe schaffen. Aus „La France Gastronomique“ und seinem Bewertungssystem für Komfort

und Kulinarik wird 1926 der „Guide Michelin“ hervorgehen, jene perfekte Symbiose aus Reiseunterlage und Gas- troführer, dessen Sternebewertung bis in die heutige Zeit Köche auf der ganzen Welt in Aufregung versetzt. Im Verlauf des 20. Jahrhundert er- lebt das Restaurant eine weitere Trans- formation durch Migration, Globalisie- rung und veränderte Alltagsrhythmen. Einwanderung bringt neue Küchenstile in die westlichen Metropolen. Italie- nische Trattorien, chinesische Garkü- chen, pakistanische Tandoorihäuser und türkische Grillimbisse erweitern den geschmacklichen Horizont, und das Restaurant wird zum interkulturel- len Erfahrungsraum. Selbst hinter dem Eisernen Vor- hang finden an einigen Orten kosmo- politische Umwälzungen jenseits der russischen Soljanka statt. In Suhl etwa eröffnet Mitte der 1960er-Jahre der Waffenschmied, eine ursprünglich gut- bürgerliche Gaststätte, die nun in einem einzelnen japanischen Raum exotische Kost serviert – im Angebot ist anfangs nur ein einziges japanisches Gericht mit Zutaten, die es auch in der DDR gibt: Rindfleisch oder Wald- pilze zum Beispiel. Der erste japanische Gast verrät dem Betreiber weitere Rezepte, und mit der Zeit wird der Waffenschmied zur sozialistischen Erfolgsstory – ein Stück Fernost im Thüringer Wald. Die Kunden müssen, typisch DDR, allerdings viel Geduld mitbringen, wollen sie gepflegt bei Sushi und Sake speisen. Bis zu zwei Jahre beträgt die Wartezeit für einen reservierten Tisch. Drüben im Westen arbeiten ande- re ebenfalls an der Verfeinerung der Geschmacksnerven ihrer Mitbürger. Im März 1952 eröffnen eine ehemalige Balletttänzerin und ihr italienischer Gatte in Würzburg die erste Pizzeria auf deutschem Boden. Die Einheimi- schen tun sich zunächst schwer mit der ungewohnten Küche aus südlichen Gefilden, doch dank der in der Gegend stationierten amerikanischen GIs über- lebt das Restaurant Le Sabbie di Capri die wirtschaftlich schwierige Anfangs- zeit. „Spaghetti with Meatballs“ entwi-

SYSTEMGASTRONOMIE Aschingers Bierquellen versprechen „Beste Qualität bei billigstem Preis“ (Szene aus dem deutschen Film „Die Stimme aus dem Äther“ von 1939)

72 P.M. HISTORY – OKTOBER 2025

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