Strafkolonien
E inen ersten Eindruck von Guayana erhält der Reporter Albert Londres schon einige Tage vor seiner Ankunft. „Als die ‚Biskra‘ Anker vor Port of Spain geworfen hatte“, schreibt er spä- ter, hätten ihre Passagiere den Kapitän von der Brücke schreien hören: „‚Nein! Nein! Ich habe weder eine Stange noch Handschellen noch Waffen an Bord. Ich will die nicht!‘ Unten, auf dem Meer, warteten elf weiße Männer und zwei schwarze Polizisten in einem Boot. Es waren elf Franzosen, ausgebrochene Zwangsarbeiter, die man wieder einge- fangen hatte und zurück nach Guyana verschiffen wollte.“ So lauten die ersten Sätze einer 14 Folgen umfassenden Artikelserie über Frankreichs südamerikanische Straf- kolonie, die – veröffentlicht im Sommer 1923 im „Le Petit Parisien“, tägliche
Auflage 1,5 Millionen – in Frankreich Geschichte schreiben sollte. Ihr Autor, der Journalist Albert Londres, ist da 39 Jahre alt und schon lange kein unbeschriebenes Blatt mehr. Sein erstes Meisterstück war ihm im September 1914 gelungen – eine Kriegs- reportage über die Kathedrale von Reims, die nach massivem deutschem Beschuss in Flammen gestanden hatte. Später hatte Londres über die bol- schewistische Revolution in Russland berichtet, über abenteuerliche Reisen durch China, Japan, Indien, Syrien. Und dabei, sicherlich den Erwartungen seiner Leserschaft entsprechend, auch gängige Klischee-Vorstellungen zu die- sen „exotischen“ Ländern bedient. Dies ändert sich nun schlagartig in Guayana. Von Beginn an zeigt sich der Pariser Reporter betroffen von den skandalösen Zuständen in der Strafko-
ABGESCHOBEN Verbrecher, die in Frankreichs südamerikanische Strafkolonien verschifft wurden, hatten wenig Aussicht, jemals zurückzukehren
LAGER Gebäude der Strafkolo- nie Saint-Laurent-du-Maroni in Französisch-Guayana: Inhaftierte mussten Zwangsarbeit leisten
73 P.M. HISTORY –
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