Strafkolonien
Nummer 37.644, verurteilt zu 20 Jah- ren Zwangsarbeit wegen „versuch- ter Brandstiftung“. Im Laufe seiner bislang 15 Jahre im „Bagne“ habe es dieser Mann durch Zusatzstrafen auf 3779 Tage Kerkerhaft gebracht, erfährt Londres vom Direktor der Strafanstalt: „Roussenq ist ein seltsamer Fall. Er empfindet Lust daran, bestraft zu wer- den.“ Werde ihm seine verdiente Strafe verweigert, beschwere er sich an hoher Stelle und provoziere ständig. „Sie sind eine widerliche Person“, habe er dem Gouverneur geschrieben. Als darauf keine Strafe erfolgte, sei der nächste Brief an den Gefängnisdirektor gegan- gen – mit Beschimpfungen wie „Dreck- sack“ und „Aasgeier“. Der Direktor hat es satt. „Um Roussenq zu bestrafen, habe ich jetzt beschlossen, ihn nicht zu bestrafen“, sagt der Mann schlau. Als Londres den Sträfling in seinem Verlies besucht, fragt er ihn nach seinem Alter. „23 Jahre Leben plus 15 Jahre Hölle, macht 38“, antwortet Roussenq. Er zeigt seinen nackten dürren Körper. „Kachexie“, sagt er: Körperzerfall.
ATTACKE Illustration eines Fluchtversuchs: Im Meer um die Gefängnisinseln lebten viele Haie, die wohl auch Leichen auf See bestatteter Häftlinge fraßen
Die letzte Insel, L’Île du Diable, ist politischen Gefangenen und Hoch- verrätern vorbehalten. „Dreyfus hat sie eingeweiht“, weiß Albert Londres. „Hier ist seine Hütte, sie steht verlassen. Ich schaue sie an. Und es ist, als würde man mir eine uralte Geschichte erzäh- len“ (siehe Kasten linke Seite). V ielleicht trifft Londres auch Alfons Paoli Schwartz, der im selben Jahr auf der Teufelsin- sel eintrifft. Den Mann, der als letzter deutscher Kriegsgefangener des Ersten Weltkriegs in die Geschichte eingeht. Der Deutsch-Elsässer hatte als Agent 39 die französische Spionageabwehr infil triert und fürs Kaiserreich ausspioniert. Erst 1932 wird Schwartz nach Deutsch- land zurückkehren. Einige werden versuchen, von der Teufelsinsel zu fliehen. Henri Char- rière behauptet, es sei ihm gelungen: 1944, mithilfe eines Floßes, zusam- mengebastelt aus Kokospalmzweigen! Darüber schreibt er 20 Jahre später
den Weltbestseller „Papillon“, verfilmt mit Steve McQueen. Nachforschungen decken jedoch derart viele Ungereimt- heiten auf, dass niemand mehr ernst- haft an Charrières Version glauben kann. Er habe seine eigene Geschichte mit denen anderer verwoben, heißt es nunmehr. Wie auch immer. Londres’ Reporta- gen-Serie „Au Bagne“ schlägt in Paris ein wie eine Bombe. Bereits ein Jahr später, im September 1924, beschließt die Regierung das Ende der Strafkolo- nie Guayana. Bis die Maßnahme effek- tiv wird, werden allerdings noch 30 Jahre vergehen. Die letzten „Bagnards“ – insgesamt waren es 70000 binnen eines Jahrhunderts – werden erst im August 1953 nach Frankreich zurück- kehren.
Michael Stührenberg lebt als Reporter und Buchautor in Paris. In P.M. HISTORY berichte- te er zuletzt 2018 über den Mythos der Goldstadt Timbuktu.
P.M. HISTORY – 77
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