Die Löwen von Tsavo
Die Uganda-Bahn konnte daraufhin fertiggestellt werden, und 1901 kehrte Patterson in seine Heimat zurück. Die Memoiren über die Löwenjagd veröf- fentlichte er 1907 unter dem Titel „Die Menschenfresser von Tsavo“. Nach vie- len weiteren Abenteuern in Ägypten, der Türkei und Palästina starb Patter- son 1947 mit 79 Jahren im kaliforni- schen Bel Air. Die Faszination für die Löwen von Tsavo blieb jedoch. Vier Filme gibt es über sie, darunter „Der Geist und die Dunkelheit“ von 1996 mit Val Kilmer und Michael Douglas. Die Tiere selbst stehen als Dermoplastiken im Field Museum of Natural History in Chicago. Patterson hatte sie 1924 an das Museum verkauft. Mehrmals untersuchten Wissen- schaftler die Überreste der Menschen- fresser – zuletzt 2024. Dabei kam he- raus, dass die Löwen, die mit einer Körperlänge von fast drei Metern über- durchschnittlich groß und vermutlich Brüder waren, Zahn- und Kieferschä- den hatten. Unter anderem deshalb hatten die Raubtiere Menschen ange- griffen. Wegen der Gebissschäden war es den Raubkatzen nahezu unmöglich gewesen, wilde Tiere zu reißen. Men- schen waren dagegen leichte Beute. In erster Linie rührten die Angriffe aber wohl daher, dass das ökologische Gleichgewicht in der Region gestört war. Durch die Massentötung von Elefanten wegen ihres Elfenbeins hatten sich dort Büsche und Bäume ungehindert ausge- breitet. Beutetiere wie Antilopen und Zebras waren in zugänglichere Gebiete abgewandert. Zudem hatte die Rinder- pest, die die Europäer eingeschleppt hatten, die Zahl der einheimischen Büf- fel dezimiert. Also fokussierten sich die Löwen auf Menschen. Ganz falsch lagen die Bahnarbeiter also nicht: Die Menschenfresser waren zwar keine rachsüchtigen Häuptlinge. Vielmehr war es die Natur, die an den Menschen Vergeltung übte.
weckte sein Waffenträger Mahina ihn, als sich der Löwe anpirschte. „Ich ent- leerte beide Läufe fast gleichzeitig in seine Schulter und konnte zu meiner Freude sehen, wie er unter der Wucht zu Boden ging“, so Patterson. Doch das Tier rappelte sich wieder auf und entkam. Zehn Tage blieb der Löwe ver- schwunden, und alle glaubten bereits, er sei an seinen Wunden gestorben. Doch in der Nacht des 27. Dezember tauchte der Menschenfresser ein weite- res Mal auf und griff eine Gruppe Trä- ger an, die in einem Baum schliefen. Die mondlose Nacht war aber so dunkel, dass Patterson ihn verfehlte. Am nächsten Abend bezog der Brite seinen Posten in dem Baum. Der Him- mel war klar, der Mond hell. Gegen 2 Uhr übernahm Mahina die Wache. Patterson erwachte eine Stunde später unruhig und sah den Löwen, der sich gerade näherte. Er traf, doch das ver- letzte Tier entkam erneut. Bei Morgengrauen verfolgte Patter- son den Löwen mit seinen Männern. „Als ich vorsichtig durch die Sträucher lugte, konnte ich den Menschenfresser sehen, der in unsere Richtung starr- te und mit einem wütenden Knurren seine Reißzähne fletschte.“ Der Löwe
sprang auf die Gruppe zu. Die Männer flohen panisch auf umstehende Bäu- me. Von oben schoss Patterson mehr- mals auf die Bestie, bis sie schluss- endlich zusammenbrach. „Ziemlich töricht stürzte ich so- gleich vom Baum herab und ging zu ihm hin. Zu meiner Überraschung und kei- nem geringen Schrecken sprang er auf und versuchte einen weiteren Angriff“, erinnerte sich Patterson, der den Löwen nun in Brust und Kopf traf. „Er fiel […] keine fünf Meter von mir entfernt und starb kämpferisch, indem er wild auf einem Zweig herumbiss […].“ Die Rache der Natur Unter Freudengeheul wurde der tote Löwe ins Lager getragen. Für die Arbei- ter und Einheimischen war Patterson ein Held. Als Dankeschön schenkten sie ihm eine silberne Schale mit einem Gedicht als Inschrift. Schaulustige reis- ten an, um die Menschenfresser von Tsavo zu sehen. Glückwunschtelegram- me flatterten herein, Zeitungen berich- teten über den Heldenmut von Patter- son. Der schickte Haut und Schädel der Löwen nach England, wo er sie zu Fell- vorlegern präparieren ließ.
Martin Arnold ist seit seinem Urlaub in Namibia fasziniert von Afrika und der reichen Geschichte des Kontinents.
TROPHÄE Nach knapp sechs Monaten erlegte Patterson die beiden Löwen. Ihre Überreste ließ er in England zu Fellvorlegern verarbeiten. Heute stehen die Tiere als Dermoplastiken im Field Museum of Natural History in Chicago
79 P.M. HISTORY – OKTOBER 2025
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