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und auswerten können. Standardisie- rung ist letztlich immer auch eine Form nützlicher Kommunikation. Bisher haben wir vor allem über den Nutzen von Messungen gesprochen – was waren und sind ihre Gefahren? Sehr häufig hängen Messungen mit Ressourcenverteilung zusammen. Im alten Ägypten wurde der Wasserstand des Nils sorgfältig beobachtet, um Ernteerträge vorherzusagen – aber auch, um die Steuersätze festzulegen: Je höher das Wasser, desto höher die Steuern. Ebenso werden Noten von Studierenden oder die Anzahl wissen- schaftlicher Publikationen genutzt, um Entscheidungen über Stipendien oder

dann etwa für Almanache auswer- teten. Das Cyanometer half Naturfor- schern, „Bläue“ auf eine einheitliche Weise zu beschreiben: Es ist hilfreicher zu sagen, „der Himmel ist eine Sechs“ als „der Himmel ist sehr blau“. Was lässt sich daran über die „Natur“, das Charakteristische des Messens ablesen? Ich mag dieses Beispiel, weil es zeigt, wie wir abstrakte Konzepte wie „Bläue“ standardisieren und messbar machen können – aber auch, wie viele Annah- men wir dafür treffen müssen: Men- schen interpretieren die Himmelsfarbe unterschiedlich, sie halten das Cyano- meter an leicht andere Positionen, die Instrumente selbst können sich unterscheiden, Farbenblindheit oder Alter können die Wahrnehmung be- einflussen ... Oft läuft Messen am Ende auf ein Nahe-genug-dran hinaus – oder zumindest auf ein Besser-als-vorher. „Bläue“, wirtschaftliche Leis- tung, die Zahl unserer täglichen Schritte – wir Menschen scheinen eine Leidenschaft fürs Messen zu haben. Warum ist das so? Wir reden oft über Messungen in Be- griffen wie „Objektivität“ oder „Genau- igkeit“. Aber ich glaube, im Kern geht es beim Messen um Kommunikation. Wäre es nur eine Frage der Genauig- keit, könnte ich meine Körpergröße am besten zeigen, indem ich aufstehe, meine Hand auf den Kopf lege und sage: „So groß bin ich.“ Das wäre sogar fehlerärmer als eine Zentimeteran- gabe – aber völlig nutzlos. Niemand könnte mit dieser Information etwas anfangen. Ebenso ist eine Einheit nutzlos, wenn sie niemand versteht oder reproduzieren kann, selbst wenn sie theoretisch präzise ist. 1958 prägte eine Studentenverbindung in Cam- bridge, Massachusetts, die Einheit „Smoot“, ungefähr 1,70 Meter. Benannt ist sie nach Oliver Smoot, der so groß

EXPERTIN Dr. Rebecca Jackson ist seit 2025 Research Associate in Medical Humanities an der Durham University, UK

war. Sie nutzten ihn, um eine Brücke nach Boston zu vermessen, und das Er- gebnis war ziemlich genau. Allerdings hatte die Praktikabilität dieser Einheit ein Ablaufdatum: Oliver Smoots Tod.

Der Ursprung des Messens liegt in der menschlichen Wahrnehmung

Anstellungen zu treffen. Für diejeni- gen, die auf diese Metriken zurück- greifen, ist das praktisch, es erleichtert ihre Entscheidungsfindungen. Für die Beurteilten kann es jedoch extrem frustrierend sein, weil all diese Zahlen am Ende in einer binären Ja-oder-nein- Entscheidung münden. Dabei gäbe es Spielraum für qualitative Bewer- tungen, bei denen Menschen sagen: „Unsere Tabelle zeigt das, aber es gab Umstände in dieser Karriere, die wir berücksichtigen müssen.“ Deswegen mache ich mir Sorgen um Künstliche Intelligenz. Sie kann nur auf Basis der Informationen im Algorithmus urteilen und liefert am Ende immer eine Ant- wort. Sie sagt nie: „Ich weiß es nicht, ich brauche mehr Informationen.“ Wenn das Nilwasser hoch steht, aber eine Plage die Ernte vernichtet, können Menschen beschließen, die Steuern niedrig zu halten. Ich bezweifle, dass eine KI das kann.

Denken Sie nicht, dass das ein sehr spezifischer Fall ist? Heute nutzt niemand mehr „Smoots“, um Längen anzugeben. Das heißt aber nicht, dass wir unseren Körper nicht mehr zum Messen verwenden. Wir teilen Dinge so auf und wählen Skalen so, dass sie für menschliche Alltagsent- scheidungen sinnvoll sind. Es ist kein Zufall, dass wir Zählsysteme benutzen, die zu unseren Fingern passen. Aus evolutionärer Sicht müssen wir ständig im Sekundentakt messen – etwa wie viel Flüssigkeit in ein Glas passt oder wie weit ein Baum entfernt ist. Dabei verlassen wir uns auf unsere Intuition. Dort beginnt Messen: mit menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Ska- len (und oft kehrt es dorthin zurück!). Selbst abstrakte Einheiten wie Ampere oder Volt sind praktisch, weil wir sie in unsere Computer einspeisen können – mit einem gemeinsamen Zahlensys- tem, das Labore weltweit verstehen

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