P.M. History

Geschichte aktuell

Oft liegt die Dekolonisation aber schon lange zurück: Einige Staa­ ten wie Marokko und Tunesien wurden in den 1950er-Jahren unabhängig, und allein 1960 folgten weitere 17 Staaten, unter ihnen Nigeria, Niger, Mali. Um die Probleme zu bewältigen, die europäische Staaten hinterlassen hat­ ten, und eine komplett neue Wirtschaft aufzubauen, ist das keine lange Zeit. Zumal andere Staaten wie Mosambik und Angola erst 1975 ihre Unabhängig­ keit erlangten. Was ist bei der Dekolonisation misslungen? Die Europäer haben es vor allem versäumt, die Gesellschaften in ihren früheren Kolonien in die Lage zu ver­ setzen, ihre eigenen Eliten zu kontrol­ lieren. Es gab keine Voraussetzungen für das Entstehen einer Zivilgesell­ schaft, also einer gut ausgebildeten Mittelschicht, die als Korrektiv wirken könnte, um das Machtstreben von Politikern einzuhegen. Das hat die Entwicklung von autoritären Regimen und Diktaturen begünstigt, denken Sie nur an Simbabwe oder Kamerun. Außerdem muss man sehen, dass die formale Unabhängigkeit für die Länder keineswegs das Ende des Kolonialis­ mus bedeutet hat. Sondern? Die Weltwirtschaftsordnung ist die gleiche wie vor der Dekolonisation: Europa verbraucht mehr Ressourcen, als es hat, und bezieht Rohstoffe wie Kobalt, Coltan, Lithium, Uran, aber auch Gold und Diamanten unter ande­ rem aus Afrika. Produziert werden Pro­ dukte wie Autos jedoch hierzulande. Aber was hat das mit Kolonialis­ mus zu tun? Die EU und Großbritannien nutzen ihre wirtschaftliche Stärke, um die eigenen Märkte von Produkten aus Afrika abzuschotten. So hindern sie afrikanische Staaten daran, eine ex­ portorientierte Wirtschaft aufzubauen. Gleichzeitig haben europäische Staa­ ten bei Verhandlungen über Rohstoff­

Präsidenten Mohamed Bazoum gestürzt. Anschließend war es zu Demonstrationen gegen die frü­ here Kolonialmacht Frankreich gekommen. Frankreich verfolgt im Niger bis heute starke wirtschaftliche Interessen, vor allem an Uranminen, unverzichtbar für die französischen Atomkraftwerke. Dass ausländische Unternehmen auch nach dem Ende der formalen Koloniali­ sierung vom Rohstoffreichtum im Niger profitieren, schürt antifranzösische Rhetorik. Deutschland hatte ebenfalls Kolonien in Afrika. Wie weit sind wir mit der Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit? Gerade der Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 im heutigen Namibia zeigt, dass wir noch sehr viel aufzuarbeiten haben.

EXPERTE Jürgen Zimmerer ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg

preise oftmals die stärkere Position. Die kolonialen Wirtschaftsstrukturen leben fort. Wie nehmen frühere Kolonial­ mächte konkret Einfluss? Wo sie nicht direkt Einfluss nehmen auf Autokraten etwa von Frankreichs

„Viele Staaten sind unvorbereitet in ihre Unabhängigkeit gestolpert“

Gnaden wie in Gabun, entfaltet auch die Kontrolle über die frühere franzö­ sische Kolonialwährung ihre Wirkung: Der Franc CFA gilt noch immer in mehr als zehn afrikanischen Staaten. Bei der Weltbank und beim Internationa­ len Währungsfonds hängen Gelder maßgeblich von Stimmen westlicher Staaten ab, die beeinflussen können, welche Entwicklungsprojekte realisiert werden. Dazu kommen kulturelle Ein­ flüsse: Afrikanische Eliten besuchen oft Universitäten in Europa und wachsen in Netzwerke europäischer Eliten hinein. Bei der weniger privilegierten Bevölkerung afrikanischer Staaten entsteht leicht der Eindruck, dass die in Europa ausgebildeten Eliten nicht nur im Interesse ihrer Heimat agieren. Welche Rolle spielte dieses Miss­ trauen beim Putsch im Niger im Juli 2023? Militärs hatten den vom Westen unterstützten

Aber die Bundesregierung hat doch 2021 beschlossen, die damaligen Verbrechen als Völker­ mord anzuerkennen. Mag sein, aber Namibias Regierung hat das Versöhnungsabkommen nicht unterschrieben, weil Vertreter der Herero und Nama Deutschlands Entschuldigung in dieser Form nicht anerkennen. Ihnen geht es insbeson­ dere um Entschädigungszahlungen für die von den Deutschen begangenen Gewalttaten. Davon abgesehen hat bislang weder der Deutsche Bundestag den Völkermord als solchen aner­ kannt, noch ist der Bundespräsident nach Namibia gereist, um dort um Vergebung zu bitten. Was mich an dieser Diskussion stört: Immer wieder wird über „Kolonialverbrechen“ ge­ sprochen. Das führt in die Irre, denn es passieren nicht Verbrechen im Kolo­ nialismus, sondern Kolonialismus als solcher ist ein Verbrechen.

P.M. HISTORY – FEBRUAR 2024 81

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