GIBT ES HEIMAT ÜBERHAUPT?
Zurück – angekommen? Mit der definitiven Rückkehr in die Schweiz mit 16 Jahren wurden die Risse im Heimatbegriff noch tiefer. Die Gefüh- le von Heimatlosigkeit und Fremdsein nisteten sich in einer sehr bewussten und verwirrenden Art in meiner Seele ein. Die häufig gestellte Frage: «Woher kommst du?», löste in mir sehr viel mehr aus, denn letztlich stellte sich damit die Frage nach Identität und Wurzeln gleichermassen. Es schien keine gute Antwort zu geben, um jemandem den Reichtum und die Vielschichtigkeit unserer Herkunft verständlich zu machen.
Als Third Culture Kid (TCK 1 ) bin ich mit dem Gefühl gross gewor- den, dass Heimat ein relativer Begriff ist und dass es «die Hei- mat» für mich nicht gibt, da diese einem stetigen Wechsel un- tersteht. Heimat ist ein Begriff, den jeder Mensch auf sei- ne eigene Art füllt – ein buntes Stoffmuster, ge- woben aus den verschie-
Wir sind da daheim, wo wir als Familie zusammen sind.
Ein Kinderfoto aus vergangenen Zeiten: Susanne im Jahr 1985.
denen Einflüssen unserer Kindheit, seien sie nun geografisch, kulturell, soziologisch oder geistlich. Die Besonderheit am Heimatgefühl eines TCKs ist darin gegründet, dass sich die- ses oft stärker über Personenzugehörigkeit definiert als über einen geografischen Ort. Darin liegt etwas Kostbares und Fra- giles zugleich: Familie und Freunde im Einsatzland werden zur «mobilen Heimat» – ein Ort der Geborgenheit und Zu- gehörigkeit trotz örtlicher Wechsel. Dies rüstet meiner Mei- nung nach TCKs mit der Gabe aus, sich an unterschiedlichen Orten dieser Welt relativ schnell einzugliedern und sich wohl und heimisch zu fühlen. Die grosse Frage Nachdem wir nach einem Jahr Heimataufenthalt ins India- nerdorf zurückgekehrt waren, fragte meine Schwester mei- ne Mutter: «Wo sind wir eigentlich daheim?» Stille folgte. Meine Mutter gab die Frage an uns weiter. Nach einer Wei- le stellte meine Schwester fest: «Wir sind da daheim, wo wir als Familie zusammen sind.» Als ich mit sieben Jahren in das weitentfernte Internat einge- schult wurde, bekam dieser fragile Heimatbegriff einige Ris- se. Ich begriff mit der Klarheit eines Kindes, dass Heimat mit Heimweh gekoppelt ist – der Sehnsucht nach Aufgehoben- sein, Schutz und tiefer Geborgenheit. Mit neun Jahren verlieh ich dieser Sehnsucht Ausdruck, indem ich mir den indiani- schen Namen «Coikwá» wünschte – dies bedeutet Him- mel. Die Namensgebung war ein wichtiges Ritual im India- nerdorf, in dem meine Eltern tätig waren. Damals ahnte ich noch nicht, wie sehr das Thema Heimat mein Leben, meine Entscheidungen und Beziehungen prägen würde.
Als erwachsene Person machte ich mich auf die Suche nach einer innerlich befriedigenden Antwort auf die Frage nach meiner Heimat. Die Reise führte mich zurück zu meinem indianischen Namen. Ich realisierte, dass Heimat nicht nur Herkunft und Erinnerung, sondern auch Zukunft, Hoffnung und Ziel bedeutet. Ich habe zwar keinen eindeutigen Ort ge- funden, den ich auf der Erde als Heimat definieren würde – dafür durfte ich auf ein viel grösseres Geheimnis stossen. In Psalm 91,9 heisst es: «Du aber darfst sagen: Bei Gott bin ich geborgen! Ja, bei Gott, dem Höchsten, habe ich Heimat ge- funden.» Diese göttliche Heimat verheisst eine weltumspan- nende Zugehörigkeit, die sich nicht an einen Ort bindet und aller Veränderung standhält. Diese Erkenntnis erleichtert und verankert mich in meinem TCK-Sein zutiefst.
1 Ein Kind, das nicht in der Heimat der Eltern grossgeworden ist.
Susanne Gisler Aufgewachsen in Brasilien, Tochter von Helene und Fredy Franz
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