Ehrenamt und Herzenssache: Türkei und Deutschland

Gibt es signifikante Unterschiede in der Arbeit mit Geflüchteten zwischen Deutschland und der Türkei?

auch Stimmen die vor Überforderung warnten oder mit rassistischen Argumenten jede Zuwanderung ablehnten. Mit unserem ausdifferenzierten System sind wir aber ganz gut aufgestellt. Das betrifft Unter - künfte, Spracherwerb und berufliche Bildung – wo - bei für uns klar ist, dass Bildung immer Vorrang vor Arbeit hat. Eins darf man allerdings nicht vergessen: 2015 sind knapp 1 Million Menschen zu uns gekom - men, die Türkei hat 5,5 bis 6 Millionen Geflüchtete aufgenommen – und das bei einer annähernd gleich großen Bevölkerung. Der Staat hat auf diese Situati - on reagiert und ähnliche Strukturen geschaffen, wie wir sie hier aus Deutschland kennen. Mit Unterstüt - zung der GIZ gibt es jetzt auch aufsuchende Arbeit, um junge Menschen dazu zu bewegen, zur Schule zu gehen. Şükran, Sie haben das Thema NGOs angesprochen. Der deutsch-türkische Fachtag hat sich ja im Herbst sehr ausführlich mit den Themen Ehrenamt und frei­ williges Engagement beschäftigt. Welche Rolle spielt das bei der Arbeit mit Geflüchteten? Şükran Yalçın: Wir haben bei unserem Besuch in Nürnberg eine sehr interessante Präsentation zu die - sem Thema gesehen. In Deutschland spielen Freiwil - lige und Ehrenamtler offenbar eine große Rolle. Aber auch bei uns gibt es das. Wir haben in Gaziantep zum Beispiel einen 22-jährigen Syrer kennen gelernt, der unentgeltlich übersetzt. Eine große Rolle spielen die staatlichen Jugendzentren, in denen es viele Freiwilli - ge gibt. Und wir spüren auch, dass sich viele Syrer en - gagieren möchten. Sie wollen etwas machen, um ihre

Şükran Yalçın: Die Situation in der Türkei verän - dert sich seit ein paar Jahren. Wir haben uns früher als Transitland wahrgenommen. Als ab 2011 die sy - rischen Geflüchteten kamen, sind wir davon ausge - gangen, dass sie entweder in ihr Heimatland zurück - kehren oder in andere Länder weiterziehen würden. Wir haben sie als vorübergehende Gäste betrachtet, haben sie in Flüchtlingslagern untergebracht und uns um Essen und Hygiene gekümmert. Langsam hat sich dann der Gedanke durchgesetzt, dass viele dauerhaft bleiben werden. Das warf dann die Fragen nach Bil - dung und Spracherwerb auf. Wie können wir es schaf - fen, dass sie sich an die türkische Gesellschaft anpas - sen? Das ist herausfordernd, denn viele haben keine gute Bildung und viele Mädchen werden mit 14 Jahren verheiratet – unter anderem deshalb werden sie oft nicht zur Schule geschickt. Wir versuchen in den Fa - milien Überzeugungsarbeit zu leisten und schicken Lehrerinnen und Lehrer vorbei. Inzwischen kooperieren das Jugendministerium, das Bildungsministerium und das Migrationsamt, um die Situation zu verbessern. Weil wir ein zentralistischer Staat sind, sind es hauptsächlich staatliche Instituti - onen, die aktiv sind. In Nürnberg habe ich gesehen, dass mehr NGOs beteiligt sind. Hans Steimle: Als 2015 viele Geflüchtete über die Balkanroute zu uns kamen, haben sich zahlreiche Menschen engagiert, um zu helfen, aber es gab

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