Fabrik der Gewalt Herausgeber Dr. Guntram Schulze-Wegener über Zivilisationsbrüche in (Sowjet-)Russland
or 100 Jahren wird die Sowjet- union gegründet, fünf Jahre zuvor, im März 1917, dankt Zar Nikolaus II. ab.Was folgt, geht als die„ZeitderWirren“oder„Russischer Bürgerkrieg“ in die Geschichte ein. Angesichts der jahrelangen, große TeiledesLandeserfassendenExzesse V
sierung von Konfessionen, Antisemi- tismus, Parteien, Banden, Oppositio- nellen und verschiedenen Völker- schaften sowie die Brutalisierung der Soldateska zwischen 1917 und 1922 ist ein „russländisches“ Massenphä- nomen, dessen Auswirkungen dem deutschen Nationalsozialismus und
aktuell nur die gegenwärtigen russi- schen Staatsmedien zu verfolgen oder eine Rede Putins anzuhören,um eines Besseren belehrt zu werden. Mit seiner krankhaften Neigung (und mit Segnung der russisch-orthodo- xen Kirche),überallAgentenund„Na- zis“ zu wittern, die man als Verräter ausmerzen müsse, kopiert der Ge- waltherrscher Wladimir Putin wohl- feile historische Vorlagen. Und er- reicht damit Millionen begeisterter Russen, denen er einredet, einen ge- rechten Krieg gegen die Ukraine zu führen und wie Stalin und Lenin auf der richtigen, heroischen Seite der
In Russland gehören von alters her brutale Herrschaftsstrukturen zum Alltag.
dem internationalen Faschismus dann in ungeahnter Weise Nahrung für ihre menschenverachtende Ideo- logie geben: Vom rohen Russen zum„slawischenUntermenschen“ ist es nur ein kleiner Schritt. von 1936 bis 1938 gipfeln, eine tota- litäre Diktatur mit weiteren 20 Millio- nen Toten errichtet, kehrt Ruhe ein. Soaberwitzigesklingenmag:DerSieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941 bis 1945 über Nazi-Deutschland festigt Stalins Reich nach innen und seine eigene unbeschränkte Macht. Wer denkt, die Schatten der Ver- gangenheit seien mit der Wende der Jahre1989/90verschwunden,braucht Es sind nicht nur die inneren Kämpfe zwischen „Roten“ und „Weißen“, sondern mehrere paral- lele, sehr vielschichtige Bürger- kriege gerade in den Randzonen und in der Anfangszeit auch der Kampf gegen ausländische Inter- ventionstruppen der Entente und der Mittelmächte. Hier liegen die historischen Wurzeln des heute von der russischen Führung und vor allem von Putin selbst bemüh- ten Narrativs vom immerwähren- den Krieg Russlands gegen den inneren und äußeren Feind. Erst als Stalin mit seiner gnadenlosen Ausrottungspolitik und den „Säu- berungen“, die im „Großen Terror“
(Exekutionen, Folter, Raub und Ver- schleppung, Hunger, Kälte, Terror, Rebellionen, Kämpfe, Willkür- und Völkermorde) sind das eher sanfte Umschreibungen. Während dieser Raserei sterben bis Ende 1922 schät- zungsweise 25 Millionen Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von 180 Millionen auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreiches. Zum Ver- gleich:ImZweitenWeltkriegverlieren 20 Millionen Sowjetbürger ihr Leben. Die flächendeckende Enthem- mungerklärtsichzumeinenmitdem Ersten Weltkrieg, der die Gesellschaft in unfassbarer Weise verrohen lässt, und zum anderen mit einer nie da gewesenen Ordnungs- und Zukunfts- losigkeit. Im Meer von Blut zählt ein Menschenleben nichts. Aus dem großen revolutionären Rausch nach dem Sturz des Zarenwird im Zeichen des Staatszerfalls ein zügelloser Blut- rausch, der sämtliche soziale Schich- ten erfasst. In Russlandgehörenvon alters her brutale Herrschaftsstrukturen zum Alltag. In dem Riesenreich die Knute der Regierenden zu spüren, ist in den rückwärtsgewandten Land- und DorfgemeinschafteneineNormalität, in den Städten zumindest geduldet. Dabeiwäre es falsch,Lenin die alleini- ge Schuld an allen Verbrechen dieser Übergangszeit zu geben. Die Radikali-
Geknechtet: Häftlinge eines Straflagers (Gulag) nebst Bewacher in den 1920er- Jahren. Die Gewaltkultur in Russland fordert im 20. Jahrhundert Millionen Opfer
Geschichte zu stehen. Die Höhe der Opferzahl ist ihm dabei völlig gleich- gültig. Siegt er über die Ukraine, wird er auch jene Länder in den Blick neh- men, die Gebiete des Russischen Rei- ches von 1914 waren und nicht Teil der Sowjetunion wurden: Rumänien, Polen, Litauen, Lettland, Estland und Finnland.Vorgestern waren es 25 Mil- lionen Tote, gestern 20 Millionen – und morgen?
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Militär & Geschichte
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