COL DI LANA
D ie Explosion ist gewaltiger als alle anderen zuvor und ihr dumpfer Schall zerreißt die trotz der Kämpfe zeitweise vorherrschende Stille in den Dolo- miten: Am späten Abend des 17. April 1916 sprengen die Italiener den Gipfel des fast 2.500 Meter hohen Col di Lana – oder besser gesagt, sie versuchen, den darauf befindlichen Gegner in die Luft zu jagen. Es ist nur eines von vielen heute wahnwitzig anmutenden Ereignissen des eskalierenden Gebirgskrieges. Die Kämpfe um den Col di Lana und den über einen Gipfelgrat mit ihm verbunde- nen Monte Sief (2.424 Meter) zählen zu den schwersten des Ersten Weltkriegs und bringen ihm den Namen „Blutberg“ ein (italienisch: Col di Sangue). Doch wie kam es zu diesen außergewöhnlichen Kämpfen, die vor 110 Jahren die Dolomiten erschütterten? Zögerliche Italiener Rückblick: Durch die italienische Kriegser- klärung vom 23. Mai 1915 gerät Österreich- Ungarn in eine verzwickte Lage. Zwar kommt der Schritt Italiens damals nicht unerwartet, doch sind die Streitkräfte der Donaumonar- chie überwiegend an der Ostfront und auf dem Balkan festgelegt und auf den Kriegs- schauplätzen in Serbien und Galizien von hohen Verlusten geplagt. Nur schwache, improvisierte Kräfte ste- hen an der mehrere Hundert Kilometer lan- gen Grenze zu Italien bereit – darunter fast 30.000 landsturmpflichtige Standschützen, eine Tiroler beziehungsweise Vorarlberger Landmiliz. Doch diese können im zweiten Kriegsjahr vorrangig nur sehr junge und ältere oder sogar zum Teil invalide Männer aufbieten. Viele von ihnen liegen bereits zum Zeitpunkt der italienischen Kriegserklärung VERTEIDIGUNG DER HEIMAT: Tiroler Stand- schützen marschieren nach ihrer Mobilisie- rung für den Einsatz an der Front gegen Ita- OLHQGXUFKHLQH$OSHQ2UWVFKDIW(VHQWƃDPPW ein blutiger Gebirgskrieg Foto: picture-alliance/SZ Photo|Scherl
AUFTAKT IN DEN ALPEN: Im Mai 1915 erklärt Italien Österreich- Ungarn den Krieg und erhofft sich Territorialgewinne. Es entbrennt ein Kampf um Teile Tirols, der auch die Dolomiten erschüttert; im Bild: italienische Alpini dringen über die Grenze vor Abb.: pa/Heritage Images|G d‘Amalo
auf Grenzwacht, wenngleich in kaum aus- gebauten Stellungen. Hätte die italienische Armee rasch und energisch angegriffen, wäre ihre Offensive möglicherweise schnell erfolgreich gewe- sen. Dass dies damals nicht geschieht, liegt einerseits daran, dass die Armee noch nicht in ausreichender Stärke schlagbereit versam- melt ist. Andererseits liegt es wohl an dem gewissen Respekt, den General Luigi Cadorna (1850–1928) vor dem kriegserfahrenen Geg- ner gehabt haben dürfte. Der italienische Generalstabschef will offenbar nichts über- eilen und erst nach sorgfältiger Vorbereitung mit seinen Armeen vorrücken. Die Zeit, die er für seine Angriffsvorbereitungen braucht, gewinnen die Österreicher zur Organisation ihrer Verteidigung. Darüber hinaus kann die k. u. k. Doppel- monarchie Österreich-Ungarn mit Unterstüt- zung aus dem Deutschen Reich rechnen. Dort hat man einen neuen militärischen Spezial- verband unter Führung von Konrad Krafft von Dellmensingen (1862–1953) gebildet.
Der Generalleutnant steht an der Spitze des in etwa divisionsstarken Deutschen Alpen- korps und zeigt sich ebenfalls überrascht über die zögerliche Haltung der italienischen Seite. So schreibt der gebürtige Laufener am 25. Mai 1915 in sein Tagebuch: „Ich erfahre, dass der Feind bis jetzt noch an keiner Stelle etwas Ernstes unternommen hätte. Der versteht sein Geschäft schlecht. Mit der Kriegserklärung hätte er auf allen Straßen einmarschieren müs- sen.“ Kurz darauf notiert Dellmensingen: „Im Gesamtverhalten zeigt sich der Feind noch immer sehr vorsichtig.“ Deutsche Hilfe Der Einsatz des Deutschen Alpenkorps in den Dolomiten mutet insgesamt etwas seltsam an, da sich der neu aufgestellte Großverband auf einer Frontlänge von zirka 100 Kilometern regimentsweise zwischen den österreichi- schen Kontingenten zur Grenzwacht verteilt. Und das, obwohl zwischen Italien und dem Deutschen Reich offiziell noch kein Kriegs- zustand herrscht. Rund 14 Monate vor der
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