Clausewitz

ERZÄHLUNG

checkten das Timing und drehten wieder um. Noch immer hatte ich keine detaillierte- ren Befehle. Wir wussten zu dem Zeitpunkt nur, dass Kabila mit seinen Truppen bereits am östlichen Stadtrand Kinshasas stand. Die Aktion würde im Morgengrauen, also in ei- nigen Stunden, stattfinden – oder komplett abgeblasen werden. Sie tagsüber durchzu- führen, war unrealistisch. Bei dem Gedan- ken musste ich an das Debakel der US Delta Force in Mogadischu im Oktober 1993 den- ken. Die Idee, nach Sonnenaufgang in Kin- shasa unterwegs zu sein, bescherte nicht nur mir eine Gänsehaut. Meine Kompanie war auf Nachtkampf spezialisiert. In der Dunkel- heit bewegten wir uns sicherer als andere Soldaten bei schönstem Sonnenschein. Wie Katzen wurden wir zu der Zeit aktiv, wenn andere sich zum Schlafen hinlegten. Alles war auf den Nachtkampf ausgelegt, unser Gerät, unsere Optik, unsere Waffen und un- sere Mentalität. Bis an die Zähne bewaffnet Als von unserer Seite aus kurz nach Mitter- nacht alles perfekt schien, ging es zurück ins Camp, wo das Warten auf den Einsatz be- gann. Genauso wie wir Legionäre – mittler- weile war auch die CEA des 2. REP in Braz- zaville eingetroffen – warteten Belgier, Ame- rikaner, Briten und Portugiesen auf das „Grüne Licht“ der Generäle. Von den Briten wusste ich, dass sie ihre Evakuierungsziele in Kinshasa bereits kannten. Es handelte sich um die britische Botschaft, ein indisches Res- taurant, einen Hindu-Tempel und das Zen- trum einer ölverarbeitenden Gesellschaft. Daraus ließ sich ableiten, dass zumindest auch die Briten Spezialeinheiten in Kinshasa hatten. Die Armeestäbe jeder betroffenen Nation schmiedeten ihre eigenen Pläne, Ab- sprachen untereinander gab es kaum, zu- mindest nicht erkennbar. In einer Sache wa- ren sich Briten und Franzosen allerdings ei- nig: Die Evakuierung würde nur dann stattfinden, wenn die Lage es nicht anders zuließ. Mit anderen Worten: wenn auf der anderen Seite des Pools das Töten bereits be- gonnen hatte! Warum? Nun, wenn die Eva- kuierung in einem zu frühen Stadium statt- fand, könnten Geschäftsmänner, Beamte und Reiche es verweigern, die Stadt zu ver- lassen. Man müsste sie dazu zwingen oder sie dort ihrem eigenen Schicksal überlassen. Trotz der Tatsache, dass mir detaillierte Befehle noch nicht vorlagen, ging ich alle nur denkbaren Szenarien zumindest einmal im Kopf durch. Und ich schätzte unsere Situati-

DIE „SCHWEREN JUNGS“: Panzersoldaten der Legion im Kongo. Das 1. REC (1er régiment étranger de cavalerie / 1. Kavallerie-Fremdenregiment) ist primär mit dem AMX-10- RC-Radpanzer aus französischer Produktion ausgestattet, der mit einer 105-mm-Kanone und zwei MG bewaffnet ist

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