Clausewitz

BALKANKRIEGE 1912 & 1913

dass die Schlachten des 20. Jahrhunderts sich in ihrem Verlauf scheinbar immer noch we- nig von Austerlitz 1805 oder Sedan 1870 un- terscheiden. Der Angriffselan der Bulgaren scheint die französische Doktrin der attaque à l outrance zu bestätigen. Weniger Aufmerk- samkeit erhält dagegen die Schlacht bei Ça- talca und der Umstand, dass das Kraft- Raum-Verhältnis hier keinen Platz für Flan- kenmanöver mehr zulässt und stattdessen zu verlustreichen Frontalangriffen zwingt, die im Abwehrfeuer der Verteidiger abge- schmettert werden. Zwei Jahre vor Aus- bruch des Ersten Weltkriegs sind dies rück- blickend betrachtet Fehlanalysen, die zu ei- ner blutigen Wiederholung der Schlacht von Çatalca führen – nur in viel größerem Maß- stab. Zerstrittene Verbündete Auch die serbische und die griechische Ar- mee können beachtliche Erfolge erringen. Die Griechen schlagen die Osmanen nördlich der Grenze am Sandaporos-Fluss und marschie- ren dann nach Saloniki, dessen Besatzung am 7. November kapituliert. Es kommt zu un- mittelbaren Differenzen zwischen Griechen und Bulgaren über den Besitz der Stadt. Die Griechen verlegen daraufhin ihren Schwer- punkt nach Westen und versuchen, Ioannina zu nehmen, vor dessen Toren ihr Angriff je- doch stecken bleibt. Die Serben marschieren mit drei Armeen auf türkisches Gebiet ein und schlagen die osmanische Armee am 3./4. November bei Kumanovo, wo sie, ähn- lich wie die Bulgaren, effektiven Gebrauch von ihrer Feldartillerie und energischen In- fanterieangriffen machen. Unter dem Eindruck der osmanischen

Niederlagen hat sich das muslimische Fürs- tentum Albanien am 28. November vom Os- manischen Reich abgespalten und seine Un- abhängigkeit erklärt, was die geopolitische Lage massiv verändert. Sowohl Serbien als auch Griechenland beanspruchen albani- sches Gebiet. Österreich-Ungarn ist dagegen bereit, den neuen Staat anzuerkennen, um Serbien den Zugang zur Adria zu blockieren. Eine solche Anerkennung würde aber be- deuten, dass Serbien und Griechenland grö- ßere Teile Makedoniens für sich beanspru- chen würden, was unweigerlich zu Konflik- ten mit Bulgarien führen muss. Letzteres hat am 20. November einen Waffenstillstand mit den Osmanen geschlossen, um den Krieg zu beenden und sich auf die Konsolidierung seiner Eroberungen zu fokussieren. Da es je- doch nicht bereit ist, seinen Anspruch auf das strategisch wichtige Adrianopel aufzu- geben, wird der Kampf im Februar 1913 wie- der aufgenommen, nachdem die Jungtürken erneut die Macht in Konstantinopel an sich gerissen haben. Ein vorübergehender Friede Die bulgarische und serbische Armee haben in Frankreich neue mittelschwere Geschütze gekauft, mit denen sie Adrianopel unter Be- schuss nehmen. Flugzeuge werfen Handgra- naten und Flugschriften über der Stadt ab, die somit die erste aus der Luft bombardierte Stadt der Geschichte wird – und am 26. März fällt. Inzwischen haben auch die Griechen Io- annina nehmen können, während die bisher als einzige wenig erfolgreich operierende montenegrinische Armee Scutari erobert hat. In der Ägäis kann die griechische Flotte mehrere erfolgreiche Landungsunterneh-

men auf türkischen Inseln durchführen, auch weil es ihr gelingt, einen Ausbruch der türkischen Flotte aus den Dardanellen zu verhindern. Hier dringt zudem eine weitere bulgarische Armee auf die Halbinsel Galli- poli vor. Der am 30. Mai in London unterzeichnete Vertrag beendet den Ersten Balkankrieg. Das Osmanische Reich verzichtet auf all sei- ne europäischen Besitzungen, bis auf einen kleinen Teil Thrakiens und auf Gallipoli. Al- baniens Unabhängigkeit wird anerkannt. Ein serbischer Adriazugang kann auf Inter- vention Österreich-Ungarns verhindert wer- den, was die Spannungen zwischen diesen beiden Ländern vergrößert. Vorerst führt der Frieden jedoch zu einer Sprengung des Balkanbundes, da Griechenland und Serbien MANN GEGEN MANN: Die Bulgaren setzen auf massierte Infanterieangriffe mit Bajo- nett, wie hier bei Kirk-Kilisse in der Nähe von Adrianopel (heute Edirne in der Türkei, an der Grenze zu Bulgarien und Griechenland gelegen) Abb.: NPL - DeA Picture Library/Bridgeman Images

BLUTIGE BILANZ: In den beiden Balkankriegen sind insgesamt zirka drei Millionen Soldaten im Einsatz. 600.000 Mann sterben oder wer- den während der etwa zehn Monate dauernden Konflikte verwundet. Das Foto zeigt bulgari- sche Offiziere nach der Einnahme der türki- schen Festung Aidjolou Abb.: picture alliance/akg-images

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