Flugzeug Classic

UNTERHALTUNG

Weshalb so ernst? Nur wenige Fotos zeigen einen lächelnden Glenn Curtiss. Dabei wird er an diesem 4. Juli 1908 gleich Luftfahrtgeschichte schreiben

Noch am 20. Juni 1908 wollte der baumwollbespannte »June Bug« bei drei Anläufen um keinen Preis in die Luft. Tags darauf, nach der Lackierung, flog der Apparat mühelos. Es ist angeblich das erste Motorflugzeug, dessen Tragflächen überhaupt mit einer Art Spannlack imprägniert wurden. »Canvas Paint« und wurde seit Langem von Seeleuten für ihre Segel verwendet ...« »... weil die Luft durch die Bespannung tropfte und so den Auftrieb verringerte. Die Lösung war, die Flügel mit einer Mischung aus Diesel, Paraffin und Terpentin zu streichen. Das Zeug nannte sich

Dem »Spannlack« – ein Gemisch aus Diesel, Paraffin und Terpentin – haben die Erbauer des »June Bug« ein bisschen Ocker beigemischt, damit das Flugzeug auf den Fotos deutlicher zur Geltung kommt

Ein Junikäfer im Juli

Es war die beste Gelegenheit, um den ge- hassten Wright-Brüdern eins auszuwischen: ein öffentlicher Motorflug, der erste in den USA, vorab angekündigt und ausgerechnet am 4. Juli, dem Nationalfeiertag, wenn das ganze Land seiner Unabhängigkeit gedenkt. Am Abend dieses regnerischen, dumpfen Tages steigt Glenn Hammond Curtiss, Motor- radrennfahren und Motorenbauer, hemds- ärmelig in den Bambusrahmen des »June Bug«. Der reichlich mit Draht verspannte Doppel- decker mit Druckpropeller ist das Gemein- schaftswerk der »Aerial Experiment Association« (AEA), einer fünfköpfigen Non- Profit-Gruppierung unter der Führung von Alexander Graham Bell, der sich das Telefon hat patentieren lassen. Der »June Bug« (zu deutsch Junikäfer) ist schon ihr drittes Motor- flugzeug innerhalb eines Jahres. Um sich keiner Patentverletzung schuldig zu machen, verwendet die AEA kleine Quer- ruder an den Flügelspitzen – eher Stör- klappen – und ersetzt so die Tragflächen- verwindung der Wrights. Die spröden Brüder sind längst alarmiert und verfolgen arg- wöhnisch, was die unbekümmerte AEA so alles treibt. Ort des Fluges: die Stony Brook Farm im idyllischen Pleasant Valley, Staat New York. Erschütternd simpel: Die Zelle des »June Bug«, in wenigen Wochen gebaut, besteht weitgehend aus Bambusrohr. Das Beste ist der Motor in Curtiss’ Rücken: ein leichter V8 mit 40 PS

Gegen 19:30 Uhr wird es ernst. Die Zuschauer und das AEA-Team stehen in einer Wolke aus Dreck und Schmieröl, als der Apparat auf seinen drei Rädern Fahrt aufnimmt und abhebt. Dieser Flug des »June Bug« (der 14. bis jetzt) ist gut dokumentiert. Mehrere Fotografen haben sich im Verlauf der vermuteten Flugstrecke postiert. Auch ein Kameramann kurbelt mit. So wird Nahezu unkontrollierbar: Pilot Curtiss profitiert von seinen Erfahrungen als Motorradrennfahrer

der »June Bug« das erste Motorflugzeug, das bewegte Bilder in der Luft zeigen. Curtiss fliegt. Aber von Kontrolle kann nicht ernsthaft die Rede sein, obwohl er später etwas anderes sagen wird. Der »June Bug« macht, was er will – rauf und runter, hin und her, nur ein paar Meter hoch. Aber Curtiss kann mit Geschwindigkeit umgehen. Sein Können reicht aus, um den dürren Apparat nicht in ein Wrack zu verwandeln. Der Flug dauert eine Minute und 40 Sekunden. Nach der geglückten Landung, eine knappe Meile nach dem Start, ist Glenn Curtiss landes- weit berühmt – sehr zum Missfallen der Wrights. Zwei Wochen später flattert bei ihm ein böser Brief aus Ohio ein, in dem Orville Wright die AEA der kommerziellen Nutzung ihrer Patente beschuldigt ... Stefan Bartman

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