NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

WI S S EN MYTHENBILDUNG

AUSBLICK Der „christliche Missionar“ blickt über den Rand der Erde hinaus, die als flache, vom Himmelsgewöl- be überdachte Fläche dargestellt wird. Kupferstich aus dem Jahr 1888

Die Legende der mittelalterlichen Flat-Earther Glaubte man im „finsteren“ Mittelalter tatsächlich, die Erde sei flach? Mit dieser Vorstellung sitzen wir einer These auf, die erst im 19. Jahrhundert entstand. Die Geschichte einer Lüge.

I m Jahr 1919 erfuhren Schü­ ler in den Vereinigten Staa­ ten aus ihren Geschichts­ büchern Folgendes: „Zur Zeit des Kolumbus glaub­ ten die Menschen, dass die Erde flach und der Atlanti­ sche Ozean von Ungeheuern bevölkert sei […]. Kolumbus musste gegen diese Überzeu­ gungen ankämpfen, denn er war sich sicher, dass die Erde eine Kugel ist.“ Die Vorstellung, dass das Mittelalter eine Zeit der kultu­ rellen Rückständigkeit war, die erst mit den Helden der Neuzeit zu Ende ging, hält sich bis heute. Noch in den 1980er- Jahren wurde sie in amerika­ nischen Lehrbüchern vertre­ ten. Ein zur selben Zeit sehr

populäres Werk von Daniel Boorstin, „The Discoverers“, widmete ein ganzes Kapitel der „Rückkehr der flachen Er­ de“ im Mittelalter. Griechenlands Erbe Dabei war die Kugelform der Erde für die Menschen des Mittelalters kein Geheimnis. Kolumbus musste seine Reise­ pläne zwar gegen Widerstän­ de durchsetzen, doch keiner seiner Gegner glaubte an eine flache Erde. Wie entstand die­ se falsche Vorstellung? Wir wissen, dass es in der Antike keine Zweifel an der Kugelgestalt unseres Plane­ ten gab. Bereits im 4. Jahr­ hundert v. Chr. wurde die Idee einer flachen Erde aufgrund

empirischer Beweise verwor­ fen. Man hatte beobachtet, dass sich das Firmament verändert und neue Sterne erscheinen, wenn sich der Mensch über die Erdoberflä­ che bewegt. Im Mittelalter galt Aristoteles als unbestrit­ tene Autorität, in seiner Nach- folge ebenso der Mathemati­ ker, Geograf und Astronom Claudius Ptolemäus, der im 2. Jahrhundert in Alexandria lebte. Beide gingen von ei­ ner kugelförmigen Erde aus. Spätere christliche Autoren wie der heilige Augustinus im 5. Jahrhundert, Isidor von Se­ villa und Beda Venerabilis im 7./8. sowie Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert, folgten dieser Auffassung.

Richtig ist, dass ein paar Autoren von dieser Linie ab­ wichen. Zu diesen Ausnah­ men zählte Lucius Lactanti­ us, einer der Kirchväter, der zu Beginn des 4. Jahrhunderts über die Vorstellung von An­ tipoden, die Bewohner der südlichen Hemisphäre, spot­ tete, man müsse sich wohl Menschen vorstellen, die „mit den Füßen in der Luft und mit dem Kopf darunter gehen“. Im 6. Jahrhundert unternahm derSyrerKosmasIndikopleus-

KOPERNIKUS’ ARGUMENT KOPERNIKUS schrieb, es sei bekannt, „dass Lactantius, üb- rigens ein berühmter Schriftsteller, aber ein schwacher Mathematiker, sehr kindisch über die Form der Erde spricht, indem er Diejenigen verspottet, die gesagt haben, die Erde habe die Gestalt einer Kugel“. Er wollte ausdrücken, dass diejenigen, die seine heliozentrische Theorie ablehnten, ebenso rückständig waren wie seinerzeit Lactantius.

NIKOLAUS KOPERNIKUS (1473–1543)

LOOK AND LEARN / BRIDGEMAN / ACI

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