VON NACKTHEIT BIS KÖRPERSCHMUCK D IE FRAUENSTATUEN zeigen, dass sich bereits die Men- schen des Paläolithikums schmückten. Die Figuren von Willendorf, Brassempouy, Laussel oder Grimaldi scheinen aufwendigen Haar- oder Kopfschmuck zu tragen; auch die Gürtel der Skulpturen von Kostenki 1 und Pavlov sowie die Armbänder an den Handgelenken der Venus von Kostenki 1 lassen darauf schließen, dass wir uns seit mindestens 30 000 Jahren mit unserem Aussehen befassen. Offen ist, ob die Ornamente allein ästhetische Zwecke hatten oder ob sie dazu dienten, eine soziale Differenzierung zu markieren.
Nahrung gewesen sein; Schwangerschaft steht für Fruchtbarkeit. Welche Erklärung wäre für den offenkundigen Wunsch nach der Darstellung von Fülle und Fruchtbarkeit am plausibelsten? Die besten Mütter Studien zur Geburtenrate und Demografie heutiger Jäger- und Sammlergesellschaften legen nahe, dass eine Frau im Alter von 40 Jahren bei optima- ler Gesundheit durchschnittlich sechs bis sieben Kinder haben kann. Die Kindersterblichkeitsrate kann ihren Nachwuchs verringern. Schätzungen zufolge könnten etwa 30 Prozent der Kinder in- nerhalb der ersten fünf Jahre sterben, weitere 22 Prozent zwischen dem sechsten und zehnten Lebensjahr und etwa fünf Prozent zwischen dem elften und 15. Lebensjahr. Hinzu kommt die Gefahr der Frauensterblichkeit während oder nach der Entbindung. Das Bevölkerungswachstum solcher Gemeinschaften wird daher häufig gebremst, so- dass eine hohe Geburtenrate erforderlich ist, um die Zahl der Mitglieder stabil zu halten. Es ist recht wahrscheinlich, dass das Überleben und der Erhalt der Gruppe ein wichtiges Ziel jung- paläolithischer Gemeinschaften war. Frauen mit einer üppigen Anatomie, bei denen sowohl die primären als auch die sekundären Geschlechts- merkmale ausgeprägt waren, wurden daher mög- licherweise als „soziale Prototypen“ von Müttern betrachtet. Ihr körperlich guter Zustand stellte die beste Chance für den Fortbestand einer Gruppe dar. Eine erkennbar gut ernährte Frau wäre in der Lage, die Ernährung des Neugeborenen sicherzu- stellen, was dessen Sterberisiko verringern würde. Diese Hypothese über den Zweck der Statuet- ten wird durch die offensichtliche und wieder- holte Darstellung der Vulva und des Scheidenein- gangs bekräftigt. Einige der Figurinen werden sogar mit einer geöffneten Vulva dargestellt. Die- ser Zustand der Dilatation (oder Ausdehnung) könnte mit sexueller Erregung zusammenhän- gen – oder aber mit der Dehnung während des Geburtsvorgangs bzw. unmittelbar danach. Unter den Venusfigurinen aus den Balzi-Rossi-Höhlen bei Grimaldi (Italien) scheint die „Polichinella“, eine Figur mit weit offener Vulva und ausgepräg- tem Bauch, den Moment unmittelbar vor der Geburt darzustellen. Die Venus von Monpazier (Frankreich) könnte den Zustand unmittelbar nach einer Geburt wiedergeben. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein üppiger Körperbau, Schwangerschaft, große
Duhard hat errechnet, dass etwa ein Drittel der Statuetten eine geringe oder erhöhte Adipositas aufweist, weitere zwei Drittel sogar eine starke Adipositas. Diese Fülle geht in vielen Fällen mit eindeutigen Anzeichen einer Schwangerschaft einher – Wölbungen, die die sonstigen volumi- nösen Körpermerkmale ergänzen. So weisen die grundlegenden und auffallen- den kompositorischen Merkmale der Venusfi- gurinen darauf hin, dass es in Europa in der Zeit vor 40 000 bis 24 000 Jahren ein wiederkeh- rendes Muster weiblicher Darstellung gab, das vor etwa 30 000 Jahren gehäuft auf- trat. Ein üppiger Körper dürfte in den Gesellschaften des Jungpaläolithi- kums ein Zeichen für Überfluss an
PALÄOLITHISCHE KOPFBEDECKUNG Hypothetische Nachbildung von Kopfbedeckungen basierend auf den Funden von Willendorf (links) und Brassempouy (rechts).
KALB. Replikat eines Knochenartefakts mit Gravur, eingefärbt mit Hämatit aus der Höhle von Mas d’Azil (Magdalénien).
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