NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

DER WERTHER-EFFEKT: KARRIERE EINES BEGRIFFS DIE ZUNAHME von Suiziden, die man nach der Ver- öffentlichung des „Werther“ beobachtete, sollte nicht die einzige ihrer Art bleiben. Immer wieder war seitdem in der Folge medialer Darstellungen ein statistischer Anstieg der Suizidrate zu beobachten.

1974 führte der amerikanische Soziologe David Philipps da- für den Begriff „Werther-Ef- fekt“ ein. Dieser fällt umso stärker aus, je detaillierter über Art und Umstände eines Selbstmords berichtet wird, ebenso bei einem hohen Identifikationsfaktor – zum Beispiel beim Tod eines Pro- minenten. Der gegenteili- ge Effekt tritt übrigens auf, wenn ein Protagonist eine tiefe Krise und eventuelle Suizidabsichten überwin- det und somit als „Mutma- cher“ wahrgenommen wird.

Nach Mozarts Helden aus der Zauberflöte ist dies als „Papageno-Effekt“ bekannt. Auch wenn mediale Themati- sierung nie der einzige Grund für den Entschluss ist, Suizid zu begehen, bemühen sich Medien seit Bekanntwerden des Zusammenhangs um eine sensible Berichterstattung. Wenn Sie depressiv sind oder an Suizid denken, kontaktie- ren Sie bitte die Telefonseel- sorge im Internet oder über die kostenlosen Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/ 111 0 222 oder 116 123.

einer Geldstrafe von zehn Talern. Die 28 Buch- händler der Stadt akzeptierten das Verbot per Unterschrift. Im Jahr 1776 fiel der gefährliche Ro- man auch der österreichischen und dänischen Zensur zum Opfer. In Spanien verurteilten die katholischen Kirchenbehörden den „Werther“ als eine „zügellose Elegie auf den Ehebruch“, außer- dem galt er als allzu erotisch. Er wurde sofort ins Verzeichnis der verbotenen Bücher des Heiligen Offiziums aufgenommen. Goethe, der kaum fassen konnte, dass sein Werk eine solche Wirkung haben sollte, stellte bereits in der zweiten Auflage dem zweiten Teil des Buches einen Leitspruch voran: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“ In einer späteren Fassung, die 1787 erschien, ging er als auktorialer Erzähler und „Herausgeber“ der Brie- fe stärker auf Distanz zu seinem Helden. Er ahnte nicht, dass Werther mit seiner Verherrlichung des Gefühls den Startschuss für die mächtige Bewe- gung der deutschen Romantik gegeben hatte.

Ähnliche Vorfälle gab es auch außerhalb Deutschlands. So berichtete das englische Gent- leman’s Magazine 1784 über den Selbstmord einer Miss Glovet in London: „Die Leiden des jungen Werther wurden unter ihrem Kopfkissen gefun- den, ein Umstand, der bekannt sein sollte, um den bösen Einfluss dieses verderblichen Werkes so weit wie möglich auszurotten.“ Diese letzte Bemerkung ist bezeichnend für die Sorge der Behörden über die Auswirkungen, die die Lektüre von Goethes Roman oder der bald da- rauf veröffentlichten Werke mit ähnlicher Hand- lung haben könnten, unter ihnen das anonym ver- fasste „The Sorrows of Young Fanni“ oder William Hill Browns „The Power of Sympathy“. Dessen Pro- tagonist Harrington beendet sein Leben, indem er sich erschießt; neben seiner blutüberströmten Leiche findet man einen Brief – und natürlich „The

SELBSTMORDSZENE Kupferstich (England, 18. Jahrhundert).

Sorrows of Young Werther“. Zensurmaßnahmen

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Mehrere deutsche Staaten entschlossen sich zu intervenieren. Die Zensurbehörde in Leipzig ver- bot im Kurfürstentum Sachsen den Verkauf des „Werther“ im Jahr nach seinem Erscheinen bei

BUCH Goethe. Kunstwerk des Lebens Rüdiger Safranski. Hanser, 2013

WERTHER 31

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