RUINÖSES LUXUSGUT? ROM UND DIE SEIDE
MANCHE HISTORIKER brachten die große Nachfrage der römischen Oberschicht nach dem teuren Luxusgut mit dem wirtschaftlichen
Niedergang – oder gar mit dem späte- ren Zusammenbruch – des Römischen Reiches in Zusammenhang. Dass diese These nicht haltbar ist, zeigt sich un- ter anderem daran, dass das Gewebe selbst dann noch einen entsprechenden Absatz fand, als Orient und Okzident bereits durch die Hinwendung zu Islam und Christentum gekennzeichnet waren. So soll der abbasidische Kalif Harun ar-Raschid bei seinem Tod im Jahr 809 zahllose Gewänder sowie Unmengen von Kissen, Vorhängen und Teppichen aus Seide hinterlas- sen haben.
KOSTSPIELIGE STOFFE
In Seide gekleidete Römerinnen werden bei ihrer Morgentoi- lette von Sklavinnen bedient (Fresko aus Herculaneum).
Die Bevölkerungsmehrheit hatte ohnehin kei- nen Grund, sich ostentativ zu einer bestimmten Religion zu bekennen. Lediglich Priester, Mön- che und Nonnen machten einen derartigen Aus- schließlichkeitsanspruch für sich geltend. Jen- seits der Tempel- und Klostermauern merkte man davon wenig; die Menschen machten die Konsul- tation eines religiösen Spezialisten im Falle einer Lebenskrise vor allem von dessen Fähigkeiten als Heiler oder Exorzist abhängig, nicht von seiner Qualifikation als Exeget und Dogmatiker. Pilger und Pagoden Dass sich der Buddhismus in China festsetzen und zeitweilig zur dominanten Religion werden konnte, war auch kaum vorherzusehen. Viele We- senszüge waren kaum mit den Normen vereinbar, die bis dahin Weltbild und Ritus bestimmten. Für den chinesischen Hof muss er im Grunde eine Provokation gewesen sein: Der individuelle Rück- zug in klösterliche Abgeschiedenheit und der um sich greifende Reliquienkult unterminierten die soziale Dominanz der Familie und den Ahnen- kult. Daneben begrenzte der Bau von Pagoden, die höher aufragten als die Palastanlagen, genau- so die herausgehobene Stellung des Kaisers wie die Errichtung monumentaler Plastiken. Lange Zeit waren zudem die Glaubensinhal- te, die die verschiedenen Schulen und Lehr- meinungen den Anhängern der neuen Religion
vermittelten, relativ inkohärent. So hielten es die Klöster nicht zuletzt zur Legitimierung ihrer eige- nen Tradition für sinnvoll, Mönche zu jenen Kult- stätten Zentral- und Südasiens zu senden, denen man eine möglichst unverfälschte Überlieferung unterstellte. Vor allem galt es, eine möglichst gro- ße Zahl an sakralen Schriften – und wohl auch die eine oder andere Reliquie –mitzubringen. An der Wende zum 5. Jahrhundert nahmen die Reiseakti- vitäten und, damit verbunden, meist mehrjährige Studienaufenthalte in Indien deutlich zu. Die bekanntesten Pilger waren Faxian und Xu- anzang, die 399 und 629 nach Westen aufbrachen. Ihnen verdanken wir umfangreiche Aufzeichnun- gen, die nicht nur theologische Spitzfindigkeiten enthalten, sondern auch Beschreibungen von Routen, Sehenswürdigkeiten und örtliche Gepflo- genheiten im Einzugsbereich der Seidenstraße: lange bevor Asien in Richtung Osten durchque- rende Reisende – wie der Brabanter Wilhelm von Rubruk (ab 1253), der Venezianer Marco Polo (ab 1271) und der Maghrebiner Ibn Battūta (ab 1332) – ihre Eindrücke festhielten. Erleichtert wurde die Begegnung mit dem „Fernen Osten“ durch die Gründung des mon- golischen Weltreichs im 13. Jahrhundert. Des- sen Herrschaftsanspruch reichte zeitweilig vom Chinesischen Meer bis zur Ostsee und erlaubte den Händlern, Missionaren und Diplomaten eine bis dahin unbekannte Mobilität. Das hatte
REISE IN DEN FERNEN OSTEN Marco Polo auf dem Weg nach China: So stellte sich Abraham
Cresques, Schöpfer eines katalanischen Kartenwerks, 1375 den Weg seiner Karawane vor. Un- ter den Ortsnamen kann man Camull (bzw. Kamul oder Kumul) identifizie- ren: die heutige Oase Hami im chinesischen Teil der Wüste Gobi.
56 NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY
Made with FlippingBook flipbook maker