NATIONAL GEOGRAPHIC SPECIAL

chem Bestandteil der körperlichen Gesundheits- fürsorge zum Ausdruck. Diese Tradition nimmt spirituelle und übernatürliche Auswirkungen auf die Gesundheit ernst und behandelt sie mit Kräutern, Ernährung, Gebeten und Ritualen. Die traumatische Kolonialgeschichte der lateinamerikanischen Völker hat ihrer Gesund- heitskultur ein Element der Widerstandsfähigkeit verliehen. Ihre Resilienz konzentriert sich auf das kraftvolle Band zwischen Seele und Körper. Ein susto , ein „traumatischer Schreck“, kann zum Verlust der Seele führen und schwerwiegende Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit haben, ganz ähnlich wie eine posttraumatische Belastungsstörung. Der curandero oder „Heiler“ agiert gegen Traumata, Neid oder Bosheit mit aktivem Mit- gefühl. Er verschreibt eine Reihe von spirituellen Bädern mit Sonnenblumen-Blütenblättern oder Zitronenmelisse, um die Seele wieder mit dem Körper zu vereinen, oder streicht bei einer limpia , einer „Reinigung“, mit Kräutern wie Gartenraute oder Zitronengras die krank machende bilis – „Wut“ – aus dem Körper. In der Curandero-Medizin spielt das Ge- meinschaftsgefühl eine zentrale Rolle für das Wohlbefinden. Nach einer Krankheit kom- men Familie und Nachbarn oft bei einer Tasse Damianatee zusammen. Gesundheitsorientierte Gemeinschaften können den Grundstein für mehr Akzeptanz traditioneller Heilkünste legen. Viele Menschen in Lateinamerika entscheiden sich heute situationsabhängig mal für die allophati- sche Medizin und mal für die Curandero-Medizin. So bleibt der curanderismo weiterhin eine wich- tige Facette der mentalen und körperlichen medizinischen Versorgung.

Drei Kräuter der Curandero-Medizin

31 Damiana GATTUNG UND ART: Turnera diffusa

zu verstehen. Für manche ähnelt die Blüte einem Auge mit einer Pupille in der Mitte; vielleicht erinnert sie auch ihr dichtes Wurzelwerk an die Kapillaren im Auge. In der modernen Kräuterkunde gelten Waschungen mit war- mem Weinraute-Aufguss als wirksames Mittel gegen Augenschmerzen und -rei- zungen. In Lateinamerika hängt oft ein Zweig der Weinraute über dem Haus- eingang, der den bösen Blick abwehren und über das Haus Wache halten soll.

FAMILIE: Passifloraceae Damiana verströmt einen würzig-harzigen Duft und verkörpert für viele tra- ditionelle Völker Latein- amerikas die Seele der Mayakultur und das Strah- len ihrer Sonnengötter. Der Umgang mit dieser Pflanze ist in der Curandero-Medi- zin eine feierliche und ehr- erbietige Angelegenheit. Den Blättern wird eine aphrodisierende Wirkung nachgesagt, die es vermag, Leidenschaft und Verlangen zu wecken und Bindungen zwischen Partnern und in Gemeinschaften zu stärken. Kräuterkundige greifen auf Damiana nicht nur für Liebestränke zurück, son- dern auch zur Stärkung der Fruchtbarkeit und gegen Menstruationsbeschwer- den. In der Volksheilkunde unterstützt ein Damiana- Aufguss die Genesung und hilft gegen Erschöp- fung und Depression. Wie Kamille enthält Damiana das Flavonoid Apigenin, dem eine angstlösende Wirkung zugeschrieben wird. Damia- nasirup kommt bei Energie- losigkeit und Engegefühl in der Lunge zum Einsatz.

33 Sonnenblume GATTUNG UND ART: Helianthus annuus FAMILIE: Asteraceae In der Aztekensprache Nahuatl heißt die Son- nenblume wegen ihrer Verknüpfung mit dem

kriegerischen Sonnengott chimalxochitl oder Schild- blume. Die grob struktu- rierten Blätter haben einen medizinischen Nutzen und werden mit zunehmendem Alter bitterer und wirksa- mer. Gegen Kopfschmerzen werden sie blanchiert und warm oder kalt auf die Stirn gelegt. Der warme Tee ist ein Diaphoretikum, wirkt also schweißtreibend und kühlend. In der Curandero- Medizin wird bei Fieber der Körper mit einem Sonnen- blumenblatt-Aufguss kräf- tig eingerieben und dann in Decken gewickelt, um das Schwitzen anzuregen. Das Blatt fördert auch das Abhusten: Ein Sirup oder Sud aus den Blättern wird bei Bronchitis verabreicht, um den Schleim zu lösen.

32 Weinraute GATTUNG UND ART: Ruta graveolens FAMILIE: Rutaceae

Eine Heilerin (l.) verkauft in Tehuacán in Mexiko ihre Kräuter. Ein großer Teil des Curandero-Wissens wird in mündlicher Tradition über Geschichten und praktische Beispiele von Generation zu Generation weitergegeben. Damiana (o.) ist ein zentrales Heilkraut dieser Heiltradition.

Der Ruf der Weinraute als Visionenkraut ist sowohl symbolisch als auch wörtlich

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