NATIONAL GEOGRAPHIC SPECIAL

GENUSS MIT ALLEN SINNEN

Z U ALLEN ZEITEN haben die Menschen über das Sehen und Fühlen, das Schmecken und Riechen, ja sogar über das Hören eine Verbindung zu Pflanzen aufgenommen. Geschulte Kräuterkundige haben gelernt, ihre Sinne einzusetzen, um ein Kraut und seine Heilwirkung besser zu verstehen. Sie wenden eine organoleptische Prüfung an, mit der sie die Qualität von Kräutern auf dem Feld, bei der Ernte oder Verarbeitung und bei der Herstellung von Heilmitteln beurteilen. Unsere Sinne verraten uns eine Menge über eine Pflanze. Kräuter können bitter, süß oder sauer schmecken. Vielleicht duften sie wie viele der Minzsorten. Ihre herbe Adstringenz ist auf der Zunge zu spüren, etwa bei einer unreifen Kaki, oder sie fühlen sich schleimig an wie das Gel im Inneren eines Aloeblattes. Manche Kräuter verursachen sogar ein brennendes oder stechendes Gefühl! Sie scheuern, sind flau- schig, pelzig oder glatt. Im Wind können sie spröde klingen, rasselnde Geräusche machen oder pfeifen. Manche sagen, man hört sie sogar wachsen, wenn man still bleibt und zuhört. Über den Geschmack können Kundige die Wirkung der Pflanze erkennen. So verrät uns der bittere Geschmack der Enzianwurzel, dass das Kraut die Verdauung fördern kann – und dafür gibt es eine wissenschaftliche Erklärung: Wenn die Rezeptoren auf der Zunge und im Verdauungstrakt Bitteres wahrnehmen, werden über eine Reflexreaktion Magen, Bauchspeicheldrüse und Leber angeregt, Verdauungssäfte abzusondern, die die Organe darauf vorbereiten, sich an der Zersetzung der Nahrung und der Aufnahme der Nährstoffe zu beteiligen. Ein verdauungsförderndes Mittel wie Löwenzahn lässt sich in Form eines bitteren Blattsalats als Vorspeise oder eines bitteren Aperitivs vor dem Essen einnehmen, um den Appetit anzuregen. Bitterkräuter wie Artischockenblätter oder Kalmegh unterstützen die Leber, klären die Haut und schwemmen Infektionen aus. Auch der Geruch verrät viel über die Potenziale einer Pflanze. Aromakräuter setzen ätherische Öle frei, die so leicht sind, dass sie in die Nase steigen, auf der Riechschleimhaut landen und eine Reaktion im Gehirn auslösen. Ihre winzi- gen fettlöslichen Moleküle dringen rasch ins Gewebe des

Nervensystems ein und entfalten dort ihre Wirkung. Herrliche aromatische Kräuter wie Zitronengras und Lavendel entspan- nen und tragen zur Beruhigung der Stimmung bei. Andere Aromakräuter haben eher eine stimulierende Wirkung, darunter Pflanzen aus der Familie der Minzgewächse wie Pfefferminze, die das Gehirn erfrischt und den Kreislauf belebt. Auf der Haut wirken Aromakräuter meist antiseptisch und werden in der Wundversorgung und der Behandlung von Pilzerkrankungen eingesetzt. Tee aus Kamille oder Fenchel beruhigt bei Verdauungsbeschwerden. Zudem entspannen diese Aromakräuter die glatte Muskulatur des Verdauungstrakts und können so Blähungen lindern. Mithilfe ihrer Sinne weisen Kräuterkundige Kräutern, die äußerlich angewendet oder eingenommen werden, ein- fache energetische Konzepte zu. Bitterkräuter fühlen sich eher kalt an und werden deshalb bei Fieber und zum Kühlen von Entzündungen verwendet. Aromakräuter haben oft eher wärmende Eigenschaften und regen so den Kreislauf an oder vertreiben Erkältungen; einige wie die Pfefferminze wirken allerdings auch kühlend. Wer sich also für Kräuter interessiert, kann mithilfe seiner Sinne die grundlegenden Wirkungen erkunden. In den nächsten Abschnitten sehen wir uns die Empfindungen von Schärfe, Adstringenz und Viskosität genauer an und erlangen auf diese Weise konkre- tere Kenntnisse über Heilpflanzen und ihre Eigenschaften.

Kräuter wie die Minze (r.) lassen sich mit Essig (rechte Seite) zu schmackhaften Würzmitteln für eine Vielzahl von Nahrungsmitteln kombinieren.

8 DIE KRAFT DER KRÄUTER

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