Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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entscheidende Wende, jenseits deren das Ich immer tiefer und tiefer regrediert. Dies geht mit dem Verlust zahlreicher grundlegender Funktionen einher. Anna Freud (1967) wies darauf hin, dass die traumatische Situation und der traumatische Prozess sorgsam zu unterscheiden sind von den Folgen des Traumas. Im Einklang mit den von ihr und anderen Autoren herausgearbeiteten Unterscheidungen haben mehrere Ich-Psychologen betont, dass es wichtig sei, das Trauma als solches zu begreifen, als etwas, das als unabhängiger Faktor mit anderen Entwicklungen, z.B. mit Trauer oder Triebkonflikten, in Interaktion tritt (Blum 2003). Sie betonen auch, dass Traumata in sämtlichen Entwicklungs- und Lebensphasen einschließließlich des Erwachsenenalters von Bedeutung sind (Phillips 1991). Joseph Fernando (2009) ging von der ich-psychologischen Konzipierung des traumatischen Prozesses als unabhängiger Faktor der psychischen Dynamik aus, um mithilfe dieser Differenzierung das Verständnis mehrerer Aspekte zu vertiefen. Er wiederholte erstens ein Argument, das vor ihm schon andere vorgebracht hatten (Yorke and Wiseberg 1976): Während das Trauma zuvor von Freud mit dem Motiv der Urverdrängung, der ersten Phase der Verdrängung, in Verbindung gebracht worden war, ist das Ich zum Zeitpunkt der Traumatisierung in solchem Maß funktionsunfähig, dass eine derart komplexe und koordinierte Abwehr wie die Verdrängung vielleicht gar nicht möglich ist. Das der Urverdrängung zugrunde liegende Motiv ist ein starker, alles beherrschender Affekt. Freud (1926d) hatte erklärt, dass die Überwältigung des Ichs durch die Triebe, also „von innen“, und die Überwältigung „von außen“ gleichwertig seien und die traumatische Situation erzeugten, die die Urverdrängung in Gang setzt. Alltägliche klinische Beobachtungen aber sprechen dagegen: Die Folgen des Durchbruchs des Reizschutzes (z.B. bei nächtlichen Alpträumen oder bei Wutanfällen), der das Ich vor überwältigenden inneren Reizen bewahren soll, unterscheiden sich deutlich vom Durchbruch der Reizschranke, die vor äußeren Gefahren schützen soll. Freud (1920f, 1939a) hatte die Auswirkungen der zweiten Situation beschrieben und auf den Zwang, das Trauma zu wiederholen und gleichzeitig alles zu meiden, was mit ihm zusammenhängt, fokussiert. Er wusste also sehr wohl um diesen Unterschied, trug ihm aber nicht konsequent Rechnung, wenn er Traumata auf einer allgemeineren theoretischen Ebene erörterte. Fernando (2009, 2012a, b) erarbeitete mithilfe der ich-psychologischen Unterscheidung verschiedener Ich-Funktionen ein gründlicheres Verständnis des posttraumatischen mentalen Funktionierens . Im Allgemeinen ging man davon aus, dass posttraumatische Erinnerungen konkretistisch und unsymbolisiert seien. Fernando hingegen stellte fest, dass eine genuine Erfahrung ein bemerkenswertes Maß an Verarbeitung voraussetzt, ein Vergleichen der eintreffenden Sinneswahrnehmung mit Erwartungen und sodann die Konstruktion der Erfahrung. Dies geschieht vor jeglicher Symbolisierung und bevor die Erfahrung an Sprache gebunden wird. Diese primäre Konstruktion des gegenwärtigen Moments wird durch eine Traumatisierung wahrscheinlich zerstört oder zumindest blockiert. Die posttraumatischen Erinnerungen haben die Grundeigenschaft von Erinnerungen, die man behält, verhalten sich aber in

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