Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Bion entwickelte diese Überlegungen weiter und stellte sie 1962 in seinem Buch Learning from Experience ( Lernen aus Erfahrung ; 1990 [1962]) und in der Abhandlung “A theory of thinking” (“Eine Theorie des Denkens”; 2013 [1962b]) vor. Er bezeichnete die rezeptive psychische Haltung, in der die Mutter die projizierte Panik des Säuglings in sich aufnehmen und containen kann, als Reverie . Indem er das Konzept der projektiven Identifizierung um das der mütterlichen Reverie ergänzte, trug er der Beeinflussung intrapsychischer Entwicklungen durch die Umwelt, durch primäre Beziehungen, Rechnung. Die Reverie ist ein empfänglicher psychischer Zustand, in dem die Mutter die Projektionen des Kindes unbewusst identifiziert und darauf reagiert. Aus ihrer Reverie geht ein neues Verständnis dessen, was das Kind mitzuteilen versucht, hervor. Die Mutter transformiert die von Bion so genannten Beta-Elemente in Alpha-Elemente (“Alphabetisierung”), die dem Kind dann zurückgegeben werden können. Dies ist die erste Definition des Container-Contained-Modells . Die einzelnen Schritte des Prozesses sehen wie folgt aus: Zuerst nimmt die Mutter in einem Zustand der Reverie jene unerträglichen Aspekte des Selbst, der Objekte, der Affekte und unverarbeiteten Sinneserfahrungen (Beta-Elemente) in sich auf, die das Baby in seiner Phantasie in sie projiziert hat. Zweitens muss sie die Auswirkungen dieser Projektionen auf ihre eigene Psyche und ihren Körper so lange ertragen, wie es notwendig ist, um sie zu be-denken und zu verstehen. Diesen Prozess bezeichnet Bion als Transformation . Nachdem die Mutter das Erleben des Babys in ihrer eigenen Psyche transformiert hat, muss sie es dem Kind nach und nach in entgifteter, verdaulicher Form (in Situationen, in denen das Baby davon profitieren kann) zurückgeben. Dies erfolgt durch ihre Haltung und die Art und Weise, wie sie das Baby behandelt und mit ihm umgeht. In der Analyse bezeichnet Bion diesen letzten Abschnitt des Prozesses als Publikation , gleichbedeutend mit dem, was wir gewöhnlich als Deutung bezeichnen. Die Fähigkeit zu “containen” setzt voraus, dass die Mutter über Grenzen und über genügend inneren Raum verfügt, um ihre eigenen Ängste sowie all die Verunsicherungen, die sie in Bezug auf das Baby empfindet, zuzulassen und auszuhalten, Schmerz und Unlust zu ertragen, nachzudenken, nachzusinnen und ihre Gedanken in einer für das Kind bedeutungshaltigen Weise zu vermitteln. Eine Mutter, die getrennt, intakt, empfänglich, zur Reverie fähig ist und in angemessenem Rahmen zu geben vermag, kann vom Kind als “containendes” Objekt introjiziert werden, mit dem es sich nach und nach identifizieren und das es assimilieren wird. Dadurch weitet sich sein mentaler Raum, es erwirbt die Fähigkeit, Bedeutung zu erzeugen und selbständig zu denken. Ebendies bezeichnete Bion als Alpha-Funktion . In seinem 1963 veröffentlichten Buch Elements of Psychoanalysis ( Elemente der Psychoanalyse ; 1992 [1963]) untersucht Bion die dynamische Beziehung zwischen dem Container und seinem Inhalt als erstes Element der Psychoanalyse und benutzt dafür nun die Zeichen ♀ bzw. ♂. ♂, das Containte (Contained), penetriert den aufnahmebereiten, rezeptiven Container, ♀. In diesem Kontext dienen ♀ und ♂ nicht als Geschlechtersymbole; sie besitzen keine spezifische geschlechtliche Konnotation, sondern stehen für Variablen oder Unbekannte: Die Funktionen von ♀ und ♂ kommen in sämtlichen Beziehungen unabhängig vom Geschlecht zum Tragen. ♂ dringt in ♀,

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