Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Beispiel dafür, dass scheinbar zusammenhanglose Bereiche, in diesem Fall Intersubjektivität, Bindung und Neurowissenschaften, sich unweigerlich überschneiden und gegenseitig erhellen. Otto Kernberg (2015) führt die Neurobiologie der Entwicklung und die psychoanalytische Entwicklungsforschung zusammen und unterstreicht die dynamische Komplexität der ersten Lebenswochen und –monate, in denen „affiliative“ Affekte und Triebe, die der Bindung, dem Play-Bonding und der erotischen Stimulierung zuträglich sind, die intensive Aufmerksamkeit für die Andere unterstützen. Möglicherweise tauchen auch schon in den ersten Lebenswochen bi- direktionale, nonlineare Strebungen sowohl nach symbiotischer (Zwei-)Einheit als auch nach einer Differenzierung des Selbst von der Anderen auf. Es scheint, als bestätigten die neurobiologischen Forschungen eine potentiell inklusive Sichtweise: Das rechte Gehirn als lateralisiertes, unbewusstes, affektives dynamisches Zentrum des Psyche-Körper-Systems, dessen Selbstorganisation, Wachstum und Entwicklung sich im intersubjektiven Kontext bi-direktionaler Strebungen sowohl nach Einheit mit der/den Anderen als auch nach Differenzierung entfaltet. Einer der Bereiche, in denen sich dies in der psychoanalytischen Situation potentiell manifestiert, sind die präverbalen Enactments, bei denen die Verbindungen zwischen den rechten Hirnhälften die präverbale unbewusste Kommunikation fördern können – eine Voraussetzung für die weitere Symbolisierungs- und Repräsentationsarbeit. Speziell in Europa ergab sich ein weiterer Berührungspunkt zwischen der zentralen Bedeutung der Intersubjektivität in klinischen und in entwicklungspsychologischen Studien aus der neurowissenschaftlichen Forschung, die von der Gruppe um Giacomo Rizzolatti in Parma, Italien, über die Spiegelneuronen durchgeführt wurde (Rizzolatti et al. 1996; Rizzolatti & Craighero 2004). Die Entdeckung der Spiegelungsmechanismen öffnete neue Möglichkeiten, zu verstehen, dass sich nicht nur Aktionen, sondern auch Empfindungen und Emotionen in einer „wir-zentrierten“ Dimension entwickeln: Wenn wir jemandem beobachten, der eine Aktion durchführt, eine Empfindung oder eine Emotion wahrnimmt, verstehen wir ihn, indem wir die gleichen neuralen Schaltkreise benutzen, die unser eigenes Erleben dieser Aktion, Sensation oder Emotion vermitteln. Dieser funktionale Mechanismus, die „verkörperlichte Simulation“/“embodied sensation“ (Ammaniti & Gallese 2014; Gallese 2015), ist eine neurobiologische Grundlage der Verankerung des Selbst im Körper – im Einklang mit Freuds (1923) Behauptung: „Das Ich ist vor allem ein körperliches“.

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