Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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V. SCHLUSS

In Nordamerika sind die Betonung der Bedeutsamkeit intersubjektiver Prozesse und Konfigurationen im Kontext von Entwicklung und Pathogenese, der psychoanalytischen Situation, der Entwicklung und der Repräsentationsfähigkeit sowie die damit zusammenhängende starke klinische Gewichtung von Enactments gemeinsame Elemente aller Ansätze, selbst wenn sie von den unterschiedlichen Denkschulen unterschiedlich verstanden, interpretiert und theoretisiert werden. In ihrer nordamerikanischen Anwendung sind zahlreiche intersubjektive Ansätze tendenziell erfahrungsnah. Sie stehen auch den philosophischen phänomenologischen Konzepten nah. In ihrer Anwendung der zeitgenössischen intersubjektiven Ich-Psychologie und der post-kleinianischen, post-bionianischen sowie der zahlreichen französischen Perspektiven halten die nordamerikanischen Konzeptualisierungen intersubjektiver Prozesse und Konfigurationen an der Wichtigkeit des Triebs, des Unbewussten und der psychoanalytischen Metapsychologie fest. Überschneidungen gibt es vor allem zwischen der nordamerikanischen intersubjektiven Ich-Psychologie sowie den post-bionianischen und französischen Perspektiven. Signifikante Unterschiede sind in Nordamerika am schärfsten ausgeprägt zwischen den französischen Konzeptualisierungen von Intersubjektivität und den vorherrschenden Richtungen des intersubjektiven Denkens, die aus der Selbstpsychologie und der relationalen Bewegung hervorgegangen sind. Eine Diskrepanz besteht insbesondere zwischen den Bedingungen, unter denen Theorien in diesen beiden Ansätzen konstruiert werden, und zwar vor allem, was die Implikationen für die psychoanalytische Metapsychologie betrifft. In Lateinamerika bestehen vergleichbare Konvergenzen und Divergenzen zwischen der Link-Perspektive und dem relationalen Intersubjektivitätsverständnis. Ausgehend von post-bionianischen britischen Objektbeziehungstheorien und dem post- lacanianischen französischen psychoanalytischen Denken hält die im klinischen Gruppen- und Familienkontext praktizierte Link-Perspektive an der freudianischen Theorie der infantilen Sexualität als primäre Motivationskraft fest. Sie vollzieht keinen Paradigmenwechsel. Hingegen knüpft die relationale Perspektive, die auf Ferenczi, Balint, Fairbairn, Bowlby, Winnicott und Kohut zurückgeht, an Konzepte zeitgenössischer nordamerikanischer selbstpsychologischer, relationaler und intersubjektiver Theoretiker an – z.B. Lichtenberg, Mitchell, Stern, Stolorow, Renik, Benjamin u.a.m. – und enthält insofern einen Paradigmenwechsel, als der Kliniker zu einem „Vermittler“ der Analytiker-Patient-Beziehung wird. Der relationale Ansatz arbeitet auch die Theorie der primären Motivation weiter aus und bezieht jenseits der ödipalen Wünsche insbesondere Spiel, Bindung und Anerkennung mit ein.

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