Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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AMAE Tri-regionaler Eintrag

Interregionales Editorial Board: Takayuki Kinugasa (Nordamerika), Elias M. da Rocha Barros (Lateinamerika) und Arne Jemstedt (Europa) Interregionaler Koordinierender Co-Chair: Eva D. Papiasvili (Nordamerika)

I. EINLEITENDE DEFINITION

Amae ist ein Wort aus der japanischen Umgangssprache. Es ist die Substantivform des Verbs amaeru . Beide Wortformen leiten sich von dem Adjektiv amai her, welches “süß im Geschmack” bedeutet. Amaeru ist eine Kombination aus dem Verb eru , das mit “bekommen” oder “erhalten” zu übersetzen ist, und amai. Die ursprüngliche wörtliche Bedeutung von amaeru wäre also: “Süßes bekommen”. Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet amaeru ein kindliches Anlehnungsverhalten, das um Nachsicht und um die Erfüllung einer Bitte oder eines Wunsches wirbt, sei es des Wunsches nach Zuneigung, körperlicher Nähe oder emotionaler wie auch praktischer Unterstützung. Das Verhalten bringt das Bedürfnis, sich anzulehnen, zum Ausdruck, und setzt eine gewisse Vertrautheit oder intime Nähe voraus. Typisch ist das Verhalten eines Kleinkindes oder Kindes, das an eine Mutterfigur oder Betreuerin appelliert, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Verhaltensweisen, die mit den Worten amae und amaeru bezeichnet werden, lassen sich in japanischen zwischenmenschlichen Interaktionen ebenso gut außerhalb der Familie und nicht nur bei Kindern beobachten, sondern auch in engen persönlichen Freundschaften zwischen Erwachsenen, in der Intimität einer Paarbeziehung, in der erweiterten Familie oder in kohärenten Kleingruppen wie Schulklassen oder Sportmannschaften. Man sieht sie auch in Beziehungen, in denen es ein Macht- oder Statusgefälle gibt, zum Beispiel zwischen Lehrer und Schüler, Chef und Untergebenen oder erfahrenen und unerfahrenen Arbeitskollegen. Je nach interpersonalen Umständen wird die amae- Psychologie einerseits weithin als Signal der Stärke und Tragfähigkeit einer Beziehung anerkannt; andererseits kann sie auch negativ wahrgenommen werden, nämlich als Zeichen der Unreife, Zügellosigkeit, Ansprüchlichkeit oder als Ausdruck eines Mangels an sozialem Bewusstsein und gesundem Menschenverstand. Salman Akhtar (2009) definiert amae in seinem Comprehensive Dictionary of Psychoanalysis als einen japanischen Begriff, “der eine intermittierende, repetitive, kulturell geprägte Interaktion bezeichnet, in der die üblichen Regeln der Schicklichkeit und Höflichkeit vorübergehend außer Kraft gesetzt sind, so dass die Beteiligten liebevolle Ich-Unterstützung empfangen und gewähren können” (S. 12). Diese

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